Karin Sollat (Wien)
Lange Zeit wurde die Kinder- und Jugendliteratur als Forschungsgebiet überhaupt nicht wahrgenommen, in allgemeinen Literaturgeschichten wurde sie entweder ganz übergangen oder als einer Untersuchung unwert abgetan. Diejenigen, die sich dieses Bereiches vor dem Ersten Weltkrieg annahmen, waren Lehrer. Was zur Folge hatte, daß die Fragen der Kinder- und Jugendliteratur meist einseitig vom pädagogischen Standpunkt aus behandelt wurden.
In der Zwischenkriegszeit wurden zwar weiter Kinder- und Jugendbücher publiziert, vor allem vom Österreichischen Bundesverlag und vom Verlag Jugend & Volk, die theoretische Auseinandersetzung blieb jedoch aus.
Es war Richard Bamberger, der mit der Gründung des Österreichischen Buchklubs des Jugend 1948 und des Internationalen Instituts für Jugendliteratur und Leseforschung 1965 nach dem Zweiten Weltkrieg begann, den institutionellen Boden für die wissenschaftliche Arbeit zur Kinder- und Jugendliteratur zu schaffen. Seine eigenen Publikationen waren zwar weniger literaturwissenschaftlicher Natur als vielmehr weitreichende Studien zur Leseforschung in all ihren Facetten, doch entstand durch seine Tätigkeit erstmals ein professionelles Umfeld, in dem Fachleute unterschiedlicher Interessenslagen zusammenarbeiten konnten.
Eines der ersten Standardwerke ist die 1949 entstandene Dissertation von Edith Schwab mit dem Titel "Beiträge zur Geschichte des Kinder- und Jugendschrifttums in Österreich".
Der Untersuchung, die sich mit den Jahren 1918 - 1938 beschäftigt, ist eine gattungsspezifische Gliederung unterlegt: Vom Volksmärchen über Tiergeschichten, Abenteuererzählungen und Backfischliteratur bis hin zu historisch-patriotischen Schriften und heimatkundlichen Erzählungen werden Entstehen, Charakteristik und Motive verschiedener erzählender Gattungen im Überblick behandelt.
Ging Edith Schwab, der eine erste deskriptive Erfassung der Kinder- und Jugendliteratur allgemein am Herzen lag, noch wenig analytisch-detailliert vor, so griffen weitere Arbeiten bereits spezifischere Themen auf, zum Beispiel die 1968 publizierte Dissertation Christa Federspiels "Vom Volksmärchen zum Kindermärchen".
Es folgte eine Reihe von unterschiedlichen Diplomarbeiten und Dissertationen zur Kinder- und Jugendliteratur, die in der "Bibliographie wissenschaftlicher Arbeiten zur Jugendliteratur und Leseforschung in Österreich 1948 - 1988", herausgegeben vom Institut für Jugendliteratur, aufgelistet wurden.
Eine der letzten großen Publikationen ist Ernst Seiberts "Jugendliteratur im Übergang vom Josephinismus zur Restauration", die 1987 herausgekommen ist.
Der Verfasser, der übrigens 1995 an einem Projekt mit dem Titel "Stunde Null. Kinder- und Jugendliteratur zwischen 1945 und 1955" arbeitete, hat damit nicht nur die Entstehung der Kinder- und Jugendliter in ihren literaturgeschichtlichen Dimensionen erfaßt, sondern vor alle auch einen ersten Aufarbeitungsversuch der eigenständigen Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur in Österreich gesetzt.
Erst 1994 hat Johanna Monschein ihre langjährigen Studien zur historischen Kinderbuchforschung fertiggestellt und den Band "Kinderliteratur der Aufklärung" publiziert, in dem sie sich insbesondere mit der FIDEI.Commiss-Bibliothek des Kaisers Franz I. und ihrer eigenen Kinderbuchsammlung befaßt hat.
Seiberts oder Monscheins Interesse für die literaturgeschichtlichen Aspekte stellt neben dem von Wissenschaftlern wie z.B. Friedrich Heller, der sich vor allem mit der Bilderbuchkunst der Jahrhundertwende auseinandersetzt, eher eine Ausnahme dar.
Die Betrachtung von aktuellen und vergangenen Diplomarbeiten und Dissertationen zeigt, daß der historische Ansatz nur selten eine Rolle spielt.
Zwar wird auch zu Themen wie "Wandel des Mädchenbildes in Kinder- und Jugendliteratur" oder "Der österreichische Jugendroman 1945" gearbeitet, doch setzen die Untersuchungen fast durchwegs erst nach dem Zweiten Weltkrieg ein. 90 % beschäftigen sich ausschließlich der Literatur der 70er, 80er und 90er Jahre.
Großer Beliebtheit erfreuen sich gattungsspezifische Untersuchungen etwa zur "phantastischen Kinder- und Jugendliteratur" oder zum "Kinderbuchklassiker", spezielle thematische Felder wie "Dritte Welt" oder "Nationalsozialismus" im Kinder- und Jugendbuch und natürlich Auseinandersetzungen mit dem Werk namhafter österreichischer Autorinnen: Christine Nöstlinger, Mira Lobe, Marlen Haushofer, Renate Welsh, Käthe Recheis.
Publiziert wurde davon praktisch überhaupt nichts, da von Verlagsseite nur wenig Interesse an einer theoretischen Beschäftigung mit Kinder- und Jugendliteratur besteht. Und auch die Veröffentlichungsmöglichkeiten in Zeitschriften sind beschränkt, da es in Österreich nur eine einzige Fachzeitschrift zur Kinder- und Jugendliteratur gibt: Das von ministerieller Seite herausgegebene "1000 & 1 Buch".
Es wird zur Kinder- und Jugendliteratur gearbeitet.
Besonders erfreulich sind auch erste Ansätze zu einer "Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendliteratur" mit Wissenschaftlern verschiedener Sparten, die 1995 im Rahmen einer gemeinsam von österreichischer und bundesdeutscher Seite organisierten Tagung zum Thema "Der österreichische Beitrag zur deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur" ein erstes kräftiges Lebenszeichen von sich gibt.
Und doch ist die Forschungssituation nicht befriedigend. Überspitzt gesagt, findet die wissenschaftliche Auseinandersetzung auf diesem Gebiet in Österreich nach wie vor nur marginal statt.
Die wenigen Institutionen, die sich mit Kinder- und Jugendliteratur beschäftigen, haben ein viel zu großes, ganz anders gelagertes Aufgabengebiet.
So erscheinen zwar in regelmäßigen Abständen Tagungsbände mit Referaten und Arbeitskreisberichten zu spezifischen Themen und literarästhetischen Fragen der Kinder- und Jugendliteratur, Buchlisten, Auswahlbibliographien und Lexika, für eine kontinuierliche fundierte Forschung fehlt jedoch das personelle und finanzielle Potential.
Die Universitäten wiederum, an denen die wissenschaftliche Arbeit zur Kinder- und Jugendliteratur wünschenswerterweise angesiedelt sein sollte, haben diesen Bereich bis dato stark vernachlässigt.
So wird am Institut für Germanistik der Universität Wien zur Kinder- und Jugendliteratur nur ein einziges Proseminar pro Semester fakultativ im Wahlfach angeboten. Andere Universitäten wie Klagenfurt, Salzburg, Innsbruck oder Graz führen - und damit soll das große Engagement einzelner Lehrpersonen keineswegs geringgeachtet werden - derartige Seminare nur fallweise durch.
Dieser Mangel macht sich vor allem auch im internationalen Vergleich bemerkbar: In der BRD gibt es mehrere Ausbildungsstätten auf Universitätsniveau speziell zur Kinder- und Jugendliteratur, allen voran das Institut für Jugendbuchforschung der Johann Wolfgang Goethe Universität in Frankfurt am Main.
An anderen Ausbildungsstätten wie etwa an Pädagogischen Akademien werden zwar vergleichsweise mehr Abschlußarbeiten zur Kinder- und Jugendliteratur geschrieben, doch treten die Studierenden nach Beendigung ihres Studiums in den Lehrberuf ein und führen die theoretische Auseinandersetzung nicht mehr fort.
Die Erforschung der Kinder- und Jugendliteratur in Österreich, die von den Institutionen nicht im erforderlichen Ausmaß geleistet werden kann und von den Universitäten nicht wahrgenommen wird, liegt also nicht zuletzt in den Händen einzelner Wissenschaftler, die diesen Bereich zu ihrem "Steckenpferd" gemacht haben.
So läßt es sich erklären, daß - subjektiv geschätzt - die Kinder- und Jugendliteratur in Österreich maximal zu einem Zehntel aufgearbeitet ist, von einem kontinuierlichen literaturwissenschaftlichen Diskurs Rede sein kann, ungezählte Fragestellungen und viele Autoren ihrer Untersuchung harren.
Es fehlt an nicht pädagogisch orientierten Ausbildungsstätten und Seminarangeboten, an engagierten Lehrpersonen, die die Kinder- und Jugendliteratur überhaupt als Thema einer Dissertation oder Diplomarbeit akzeptieren, an Studierenden, die im Laufe ihres Studiums für Kinder- und Jugendliteratur interessiert bzw. überhaupt auf ihre Existenz und Qualität aufmerksam gemacht werden.
Denn das schlechte Image der Kinder- und Jugendliteratur, die immer noch als "Literatur zweiter Kategorie" gehandelt wird, liegt in einem eklatanten Informationsmangel begründet.
Viele der heute Erwachsenen gehen bei dieser Einschätzung von ihren eigenen Leseerfahrungen und Buchkenntnissen aus und stellen nicht in Rechnung, daß sich die Kinder- und Jugendliteratur in den letzten zehn, fünfzehn Jahren wesentlich verändert hat. Sie ist literarisch anspruchsvoller und auch experimenteller geworden, ist offen für jedes Thema.
Daß Unmengen von Trivialliteratur den Markt überschwemmen, ist nicht zu leugnen, doch unterscheidet sich die Kinder- und Jugendliteratur darin in nichts von der sogenannten "Erwachsenenliteratur".
Vor diesem Hintergrund ist es meiner Ansicht nach höchst bedauerlich, daß ein wesentlicher Bereich der österreichischen Literatur in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung nach wie vor stark vernachlässigt wird. Und solange die Kinder- und Jugendliteratur gerade auf universitärer Ebene in Österreich praktisch ignoriert wird, wird sich an dieser Situation auch nichts ändern.
Der hier publizierte Beitrag erschien erstmals in: Donald G. Daviau/Herbert Arlt (Hgg.): Geschichte der österreichischen Literatur. Teil I. St. Ingbert: Röhrig, 1996 (= Österreichische und internationale Literaturprozesse, Bd.3, Teil I). S. 183-186.
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