Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 7. Nr. Mai 2001

Gedicht als Schrift und Gedicht als Speise:
Kommunikationsbilder bei Paul Celan und Robert Schindel(1)

Yoko Yamaguchi (Nagoya)

I. Einleitung

Vor seinem Gedicht "Nachthalm (Pour Celan)" zitiert Robert Schindel die erste Strophe aus Paul Celans Gedicht "Aus Herzen und Hirnen" (GW I S. 70), das zum Zyklus "Halme der Nacht" aus dessen erster Gedichtsammlung "Mohn und Gedächtnis" gehört. Wie gut Schindel mit Celans Werk vertraut ist, zeugen zahlreiche Zitate, Anspielungen und Bemerkungen in seinen Werken. Er bezeichnet in seinem Aufsatz "Judentum als Erinnerung und Widerstand" Celans Dichtung als den "zugespizte[n] Ausdruck einer unsagbaren, nicht mit dem Menschenherzen zu erfassenden Katastrophe dieses Volks" (GS S. 30). Der Nachthalm ist nicht das einzige Bild, das Schindel von Celan übernimmt.

Unter den zahlreichen Zitatenbeispielen aber scheint eine besondere Funktion Celans Gedicht "Aus Herzen und Hirnen" und seinem Bild von den Halmen der Nacht zugesprochen zu sein. Die Wichtigkeit dieses Bildes hängt wohl damit zusammen, daß dieses Bild die drei wichtigen Momente Tod, Schrift und Begegnung in sich trägt, die, wie meine Interpretation zeigen wird, auch in Schindels Dichtung eine große Rolle spielen.(2)

Bei der Analyse der Gedichte "Aus Herzen und Hirnen" und "Nachthalm (Pour Celan)", die beide auch als poetologische Texte verstanden werden können, möchte ich untersuchen, wie bei Celan und Schindel Bilder der Kommunikation dargestellt sind.

Im Zentrum meiner Analyse steht das Bild des Nachthalms, ein Symbol der Schrift, das aber zugleich mit dem Todesmühlenmotiv und mit dem Motiv von Menschen als Getreide eng verbunden ist. Dieses Bild erscheint bei Celan als Pluralform "Halme der Nacht" und scheint damit fast eine Allegorie für "stehende Tote" darzustellen. Dagegen wird bei Schindel in seinem Bild vom Nachthalm vor allem der Aspekt der Nahrung betont.
Bei Schindels Text möchte ich auch auf die Vermischung von Raum- und Zeitstruktur zu sprechen kommen. Zum Schluß meines Vortrags möchte ich dann noch versuchen, die dichterische Entwicklung Schindels in der letzten Zeit anzudeuten.

 

II. Paul Celan: Aus Herzen und Hirnen

1. Formale Analyse

Beim Lesen dieses Gedichtes fallen dessen parallele Strukturen sofort auf, die seinen Rhythmus ausmachen. In dem Gedicht stellt fast jedes Zeilenpaar syntaktisch eine Einheit dar, in der sich oft Laut- oder Wortwiederholungen beobachten lassen. Für diese formale Gestaltung ist die dritte Strophe besonders charakteristisch, in der die 14. und die 15. Zeile bzw. die 16. und die 18. Zeile durch Anaphern aufeinander bezogen werden. Außerdem werden mehrere Stabreime wie "aus Herzen und Hirnen", "wehen wir der Welt entgegen" oder "Stillt den Durst der Stunden" verwendet, welche die sprachliche Musikalität des Gedichtes sehr heben.
Inhaltlich gesehen ist das Gedicht auch stark von Chiasmen geprägt, die verschiedene gegensätzliche Elemente ins Spiel bringen. Tatsächlich sind im Gedicht viele allgemeine Dichotomien zu finden wie Leben und Tod, Licht und Dunkelheit, Ich und Du, Subjekt und Objekt, Sprache und Schweigen, Gesichtssinn und Tastsinn oder Trunk und Durst, die alle nicht durch eine dialektische Verfahrensweise zur Synthese gebracht werden, sondern paradox verschachtelt sind. Der formale Parallelismus und der inhaltliche Chiasmus im Gedicht stellen, wie zu zeigen sein wird, den verzweifelten Widerspruch in der Sprachwelt von Celan dar.(3)

2. Analyse des Bildes von den Halmen der Nacht bei Celan

2.1 Tod

Die Halme der Nacht können als Bild für Tod, Schrift und Begegnung verstanden werden, welche drei Begriffe allerdings eng miteinander zusammenhängen.

Das erste Bild des Auftakts, die aus Herzen und Hirnen sprießenden Halme, weisen schon auf den chiastischen Charakter des Gedichtes hin, in dem sich Tod und Leben kreuzen. Dieses vegetative Bild, das Natur und Lebendigkeit bedeuten könnte, symbolisiert vornehmlich wohl die Toten, die in der zweiten Strophe als Ich und Du erscheinen und sich mit den Halmen vergleichen. Hier und in anderen Teilen des Gedichtes wird dieser Bereich der Toten durch Lichtlosigkeit und Sprachlosigkeit gekennzeichnet.(4) Die Welt der Toten ist das Dunkel der Nacht, sie sind "stumm" und "blicklos", und es ist "kein Laut und kein Licht" zwischen ihnen.

Es liegt die Vermutung nahe, daß dem Bild von den Halmen als Kraut im Wind biblische Vergänglichkeitsbilder zugrundeliegen(5): Im Buch Jesaja heißt es z. B.: "Alles Fleisch ist Gras, und alle seine Güte ist wie eine Blume auf dem Felde. Das Gras verdorret, die Blume verwelkt; denn des Herren Geist bläset drein. Ja, das Volk ist das Gras."(40: 6-7) Man könnte auch die Halme mit dem Bild der Bäume beim jungen Celan in Verbindung bringen, die mit den Toten identifiziert werden.(6) Im Gedicht "Mit Äxten spielend" (GW I, S.89) in "Mohn und Gedächtnis" kommen beispielsweise aufgerichtete Leichen vor, die mit den Bäumen gleichgesetzt werden.

Dieses Totenmotiv wird im Gedicht "Aus Herzen und Hirnen" durch das Wort "Sensen" in der dritten Zeile mit der Vorstellung des Todes als Schnitter verbunden. Von einer "Schnitterin" ist auch im Gedicht "So schlafe" (GW I, S.58) die Rede, welches Gedicht auch das Bild vom Herzen enthält, das ein Hälmchen treibt. Durch diesen Todesschnitter wird die Vorstellung Menschen gleich Getreide in den Metaphernkomplex mit einbezogen, die wiederum das literarische Bild "Todesmühle" assoziiert. Marlies Janz weist mit Recht darauf hin, daß das Todesmühlenmotiv bei Celan "zur Metapher einer mit technischer Präzision funktionierenden Vernichtungsmaschinerie" wurde.(7) Als Beweis dafür führt sie das Gedicht "Das Gastmahl" (GW I, S.25) an, auch ein Gedicht aus "Mohn und Gedächtnis", in dem nicht nur das Bild der Todesmühle, sondern auch das Bild der Halme vorkommt:

es schießt wohl empor uns ein Moos noch, eh von der Mühle sie hier sind,
ein leises Getreide zu finden bei uns ihrem langsamen Rad…

Unter den giftigen Himmeln sind andere Halme wohl falber […]

Allerdings ist hier bemerkenswert, daß das Getreide bei Celan für die Faschisten oder für den Tod gemahlen und nicht - wie bei Schindel - anderen Menschen als Nahrung angeboten wird. Janz bezieht die zitierte Stelle auf das Sprichwort "gegen den Tod ist kein Kraut gewachsen" und interpretiert das Wachstum dieses Mooses als Protest gegen die Vernichtung der Juden,(8) was wohl auch für das Wachstum der Halme in der Nacht im Gedicht "Aus Herzen und Hirnen" zutrifft.

2.2 Schrift

Das Bild der Halme im Gedicht "Aus Herzen und Hirnen" läßt sich auf einer anderen Bedeutungsebene auch als Symbol der Schrift verstehen, das mit ähnlichen vegetativen Bildern wie Blatt, Blume oder Gras in einer engen Beziehung steht.

Die nächtlichen Halme in den frühen Werken Celans haben allerdings keine artikulierte Bedeutung als schwarze Schrift auf einer weißen Seite wie im bekannten Gedicht "Engführung" aus seiner mittleren Periode: "Gras, auseinadergeschrieben. Die Steine, weiß,/ mit den Schatten der Halme." (GW I, S.197) Peter Szondi erkannte als erster die sprachliche Doppelstruktur von der Text-Landschaft dieses Gedichtes. Er schreibt: "Wird das Gras erst einmal Buchstabe, dann ist das Weiß der Steine zugleich das Weiß der Seite, Weiß überhaupt, durchschnitten nur von Buchstaben-Halmen, oder genauer: vom Schatten, den sie werfen. Ein Gelände des Todes und der Trauer ist dieser Text."(9)

Andererseits kann nicht übersehen werden, daß die oben genannten vegetativen Pflanzenmetaphern in der frühen Dichtung oft sprachliche Kommunikationen andeuten, die allerdings mit Oxymora bezeichnet werden und dadurch die Schwierigkeit jener Kommunikationen zum Ausdruck bringen. Im Gedicht "Aus Herzen und Hirnen" wird beispielsweise ein Wort von tödlichen Sensen gesprochen, während das tote Paar als sprachlos erklärt wird. Die Toten kommunizieren nicht mehr mit der Wortsprache, die mit dem Licht- und dem Augenmotiv zusammenhängt, sondern durch Tasten, Winken und Trinken. Mit dieser nonverbalen Sprache versuchen sie jene Wirklichkeit auszudrücken, die die Grenze des sprachlichen Ausdrucks übersteigt.

Im Gedicht "Umsonst malst du Herzen ans Fenster" (GW I, S.13), das sich auch in "Mohn und Gedächtnis" befindet, wird der Zusammenhang von pflanzlicher Metapher und sprachlicher Kommunikation noch deutlicher. Hier wird das Banner, also eine Art Zeichensprache, ins Bild des Baumblattes transponiert, worin sich auch das Bild vom Briefblatt als Kommunikationsmittel verbirgt. Das Briefblatt als etwas Zugeschicktes entspricht in den darauf folgenden Zeilen der Verteilung der "Halme der Schwermut" unter den Soldaten.(10) Diese Beispiele bringen es mit sich, daß dieser vegetative Metaphernkomplex zwischen Sprache und Schweigen die Schwierigkeit des Dichters darstellt, die Unsagbarkeit der historischen Erfahrung mit sprachlichen Mitteln auszudrücken.

2.3 Begegnung

Das dritte Motiv, das mit dem Bild von den Halmen häufig in Verbindung steht, ist das Motiv der Begegnung, das oft mit dem Gastmahlmotiv und vor allem mit dem Motiv des Trinkens in Erscheinung tritt wie in den erwähnten Gedichten "Das Gastmahl", "So schlafe" und "Aus Herzen und Hirnen".

Im Gedicht "Aus Herzen und Hirnen" wird die Begegnung vervielfältigt und mit komplizierten Sinninversionen ausgedrückt. Es geht hier aber vor allem um die Begegnung der toten Welt mit der lebendigen. In der ersten und der zweiten Strophe des Gedichtes findet die Neigung der Toten zum Leben Ausdruck: "[…] ein Wort, von Sensen gesprochen,/ neigt sie ins Leben."

In der dritten Strophe ist die Begegnung dreifach. Die erste Hälfte dieser Strophe handelt von der Begegnung von dem Ich und dem Du, die als Liebespaar in einer spiegelbildlichen Beziehung stehen.

In der zweiten Hälfte dieser Strophe ist dann von der Begegnung des Wir mit den Stunden sowie von der Gegenüberstellung der Stunden mit der Zeit die Rede. Im Bild der Stunden, die ja im Plural verwendet werden, könnte man den bildlichen Doppelgänger der Halme in der Nacht sehen. Etymologisch ist das Substantiv "Stunde" mit dem Verb "stehen" verwandt, was den Halmen als aufrecht stehenden Leichen entspräche. Dieses Bild der stehenden Stunden mag Celan von Rilkes "Das Stunden-Buch" haben, dessen berühmter Anfang heißt: "Da neigt sich die Stunde und rührt mich an/ mit klarem, metallenem Schlag."(11) Es liegt auch die Vermutung nahe, daß sich im Bild vom Getränk, das den Durst der Stunden stillen soll, das Blut der Toten verbirgt. Diese Vermutung wird nicht nur durch die Gleichsetzung von Wein und Blut in der christlichen Glaubenslehre unterstützt, sondern auch durch die Verwendung des Verbs "stillen", denn man stillt ja nicht nur "Durst", sondern auch "Blut".(12) Die Zeit, die hier den Stunden der Toten gegenübergestellt wird, könnte als wirkliche geschichtliche Zeit interpretiert werden, nach deren Geschmack nun die Toten fragen.

 

III. Robert Schindel: Nachthalm (Pour Celan)

1. Der Einfluß Paul Celans auf Robert Schindel.

Wie schon am Anfang meines Vortrags erwähnt, muß Schindel von Celan in hohem Maße beeinflußt worden sein.
Zuerst werden einige Beispiele genannt, um die enge Beziehung der beiden Dichter zu demonstrieren. In der Erzählung "Kleine Geschichte des Verschwindens" von Schindel werden Celans Gedichte von einem Protagonisten vorgelesen und dann wird bemerkt: "Pauls Gedichte, das ist eine Reise ins Sprachland. In unser aller Land. In Niemandes Land." (NH, S.19). Im Gedicht "Hinterdrein Vorneweg" wird auf den Büchnerschen "Lenz" und somit auf Celans Georg-Büchner-Preisrede "Der Meridian" angespielt.(13) In diesem Gedicht wird nämlich das Datum des zwanzigsten Jänner erwähnt, der Tag, an dem im Jahr 1942 in der Wannsee-Konferenz die Vernichtung der Juden beschlossen wurde.(14)

2. Analyse des Gedichtes "Nachthalm (Pour Celan)"

2.1 Formale Analyse

Der Sprachstil im "Nachthalm" von Schindel ist an sich kaum mit dem Stil des Gedichtes "Aus Herzen und Hirnen" verwandt. Im Unterschied zur flüssigen Musikalität von Celans Gedicht herrscht im Gedicht Schindels ein prosahafter Rhythmus, eine traditionelle Metrik ist kaum spürbar.

Während im Gedicht "Aus Herzen und Hirnen" herkömmliche Metaphern die unversöhnlichen Spannungen zwischen Leben und Tod darstellen, haben im "Nachthalm" die Bilder keine klaren Konturen mehr. Das Konstitutionsprinzip des Textes ist nicht die Gegenüberstellung unvereinbarer Motive, sondern die Wiederverklumpung von Splittern zerstörter Ordnungen. Sprache und Subjekt besitzen keine einheitliche Identität mehr. So charakterisiert sich das Ich in einem anderen Gedicht als "in Streifen geschnitten" (OL 36). Der Titel der Gedichtsammlung "Ohneland", zu der das Gedicht "Nachthalm" ja gehört, bezieht sich gerade auf diesen Verlust vom "Festland ICHWIR" (OL, S.42) als Basis der Identität.

Infolge dieser äußersten Desorientierung stehen das Ich und das Du als Liebespartner im "Nachthalm" in keiner spiegelbildlichen Verbindung wie bei Celan, sondern nur in "müden Verständnissen". Die Freunde erscheinen im Auge des Ich als "Freu-Fremde", und die Rede des Subjekts klingt, obwohl sie die Form einer Anrede hat, völlig monologisch.

Die hier typische Vermischung verschiedener Sprachstile kann daher als Auseinanderbrechen eines ehemals einheitlichen Systems angesehen werden. So gibt es im dritten Teil des Gedichtes alltagssprachliche Ausdrücke wie "Schmatzen" oder "Gepferch" und im zweiten und im vierten Teil poetische Zeilen mit viel weißem Raum oder in die hochdeutschen Zeilen ist Jiddisch eingestreut oder das Ernste kippt ins Spielerische um, wenn etwa im ersten Teil der Nachthalm zum Lachhalm wird.

2.2 Die Metapher vom Getreide

Für unseren Argumentationszusammenhang ist es wichtig, daß im Gedicht "Nachthalm" die Metapher vom Getreide dominant ist, was den wesentlichen Bezug des Gedichtes auf Celans vegetative Metaphorik andeutet. Nicht nur das Schlüsselwort "Nachthalm" weist auf diesen Bezug hin, sondern auch die "Ernte" im dritten Teil sowie das "Heu" und der "Weizen" im fünften Teil. Das Wort "Schibboleth" im dritten Teil, das bei Celan als Titel eines Gedichtes verwendet wird und dann 1984 mit dem gleich betitelten Vortrag über Celan von Jacques Derrida berühmt wurde, bedeutet in der deutschen Bildungssprache "Erkennungszeichen", aber im Hebräischen ursprünglich "Ähre".

Von Celan übernimmt Schindel das Bild von den Halmen der Nacht mit den drei Bedeutungen Tod, Schrift und Begegnung, allerdings mit gewissen Abweichungen.

Im Unterschied zu Celans Werk ist hier der Nachthalm keine direkte Metapher für Leiche. Dagegen ist der Aspekt der Schrift betont, die von einem Überlebenden, d.h. Celan, geschrieben wurde. Zugleich wird diese Schrift als Nahrung begriffen, mit der das Ich "großgezogen" wurde. Die Begegnung mit den Toten findet hier also nicht durch das Trinken des Blutes statt, sondern durch das Essen der Schrift, d.h. durch die Einverleibung von Erinnerungen, die ein anderer hatte. Der Grund dieses Unterschieds zwischen Celan und Schindel liegt wahrscheinlich darin, daß, wie Schindel selber sagt, Celan als Überlebender "mit dem eigenen Körper die Brücke von damals zu jetzt" (GS, S.31) schlagen konnte oder mußte, während Schindel als einer der Generation nach Celan "nicht einmal am eigenen Leib diese beiden Leben" (GS, S.32) hat. Deshalb muß die Begegnung mit den Toten für Schindel immer eine Begegnung sein, die durch die Schrift als Erinnerung vermittelt wird.
Auch die Begegnung zwischen dem Dichter und seiner Leserschaft wird hier als Verdauung seiner eigenen Schriften dargestellt. Das Bild des Nachthalms als Nahrung zeigt sich vor allem im fünften Teil:

Wann bitte fahre ich das Heu ein?
Wer schon esset von meinen Halmen und verdauet sie gut?
Wann kann ich wiederkehren zu meinen Freu-Fremden?
Allerweil fahr ich
das Heu ein
allerweil essen sie
Meinen Weizen.

Hier kommt die Doppeldeutigkeit des Nachthalms als Schrift und Speise durch die Doppeldeutigkeit der Wendung "Heu einfahren" zum Ausdruck. Einerseits bedeutet sie wortwörtlich "Heu in die Scheune bringen", aber andererseits könnte es in der Umgangssprache auch bedeuten: "große Mengen essen". Das Gedicht, das das Ich "meinen Weizen" nennt, wird dem Leser als Nahrung angeboten.

Die jiddischen Worte "Is a giter/ nechtlicha Tug" im vierten Teil, die im Hochdeutschen wortwörtlich "Es ist ein guter/ nächtlicher Tag" heißen könnten, sind eine jiddische Redewendung und bedeuten: "Mir geht's sehr schlecht."(15)

Zugleich könnte man diese Stelle aber auch auf das Bild des Getreides und somit auf die Poetik Celans beziehen, um die dichterische Verwandtschaft beider zu unterstreichen. Denn in Celans Gedicht "Spät und Tief", in dem wiederum die Bilder der Todesmühle und des Menschen-Getreides vorkommen, erscheint "der mitternächtige Tag" als Schlüsselwort.(16) Dieser "mitternächtige Tag" bedeutet im Gedicht eine Zeitumkehr, wo "was niemals noch war" geschehen und "ein Mensch aus dem Grabe" kommen soll (GW I, S.35-36). Mit diesem apokalyptischen Bild geht es hier um die Auferstehung der Toten.(17) Der widersprüchliche Ausdruck "Is a giter/ nechtlicha Tug" in Schindels Gedicht "Nachthalm" könnte daher in diesem Zusammenhang, selbst wenn Schindel einen solchen nicht beabsichtigt haben sollte, auch als Symbol des erhofften Zeitpunktes angesehen werden, in dem die Begegnung zwischen dem Ich und dem Du, zwischen den Lebenden und den Toten und zwischen dem Dichter und dem Leser stattfinden kann. Dieses Motiv "nächtlicher Tag" kommt bei Schindel oft vor. Beispielsweise heißt das achte Kapitel der Gedichtsammlung "Ohneland", in dem sich das Gedicht "Nachthalm" befindet, "Nächtlicher Tag". Auch im Roman "Gebürtig" wird dieser "nächtliche Tag" betont. Dort "erwartet" nämlich der jüdische Protagonist Hermann Gebirtig, ein ehemaliger KZ-Häftling, "wie immer seine(!) nächtlichen Tag". (G, S.99)

2.3 Vermischung von Raum- und Zeitstruktur

Die poetologische Bedeutung des nächtlichen Tags bei Schindel könnte auch in Verbindung mit seiner Vorlesung "Literatur - Auskunftsbüro der Angst" betrachtet werden. Dort spricht er von einer Art Dialektik zwischen Gegensätzen, zwischen Hell und Dunkel oder zwischen Gut und Böse:

Wie hell ist der Dichter im Dunkeln, wie dunkel im Hellen, wie gut in der Bosheit, wie böse bei den guten Leuten. Stellt er diese Gegensätze aber in sich selber dar, geht er auch über die Grenze von Orakel und Fackel, fällt dieser Widerspruch zum Grunde, also beim Dichter in die Sprache, dann stolpert er im Wurzelwerk der Silben und Laute einer gewissen Wahrhaftigkeit entgegen, oder er totalisiert, und das noch gegen sein Wissen und zu seinem und unserem Erstaunen.(GS, S.57-58)

Allerdings dürfte die hier erwähnte Totalisierung nicht als Zusammensetzung eindeutig bestimmbarer Elemente verstanden werden, sondern als Zusammenfügung widersprüchlicher Elemente, die ihre eigentlichen Grenzen nicht mehr wissen. Deshalb wird bei Schindel oft der Text als "Knödel" dargestellt, wie das Gedicht "Hinterdrein vorneweg" zeigt:

Vielzüngig mahl ich auch je nun das Mehl.
Bekomme schlußendlich
Für die Knödelpartien, diese
Brauchbaren Texte meinen Schatten
Zurück. Mit Papiereis und
Zerstückten Allerhandrosen verbacken zwar
Aber der tiefstehenden Sonne gemäß. (IHK, S.112)

So schlägt auch der Versuch, das Ich im Gedicht "Nachthalm" räumlich oder zeitlich zu bestimmen, fehl. Auch wenn die Ausdrücke wie "nächtens", "unterm Schatten", "nachts" oder "einnachtet" für das Subjekt Ort und Zeit als nächtlichen Bereich zu bestimmen scheinen, handelt es sich um kein Todesreich wie in Celans Gedicht. Es ist einerseits der Ort einer alltäglichen, etwas langweiligen Liebesnacht, andererseits ist es ein Ort, wo das Ich in ein "Schweigexil" verbannt ist.

Bei dieser Vermischung der räumlichen und der zeitlichen Struktur ist das Zusammenkleben verschiedener Zeitschichten besonders bemerkenswert. Die Geschichte wird bei Schindel nicht als linear wahrgenommen, sondern als verklumptes Jetzt, in dem auch Vergangenheit und Zukunft eingeschlossen sind. Die Verwirrung von Zeitformen und Temporaladverbien im dritten Teil des "Nachthalms" läßt sich als Ausdruck dieses Zeitbewußtseins interpretieren. Schindel scheint die Bestimmung einer räumlichen und geschichtlichen Perspektive als künstliches Ordnen der zerstörten Welt abzulehnen.

3. Das Bild des Tageslichts - eine dichterische Wende?

Zum Schluß nur einige Bemerkungen zu einem Gedicht Schindels aus jüngster Zeit. Das Gedicht "Nullsucht 13 (Damals)" aus der neuesten Gedichtsammlung "Immernie" (IN, S.52) kann als Wende im dichterischen Schaffen Schindels gewertet werden. Es wird einem sofort klar, daß sich eine signifikante Veränderung in der Schindelschen Poetik ergeben hat. Mit anderen Worten: die Sprache ist wieder poetisch geworden. Die meisten Zeilen dieses Gedichtes haben vier Hebungen, und die Anapher "Damals war" und die Epipher "wichtig" bedingen einen gewissen einfachen Rhythmus. Auffallend ist auch die letzte Zeile, die bis auf das Fehlen der zweiten Senkung im vorletzten Versfuß ein elegischer Pentameter ist: "Also grauer als ich zeigen die Gelbspur an." Die Gegenüberstellung von "Damals" und "Jetzt" deutet auf ein lineares Zeitbewußtsein hin. Klarer als die früheren Wortknödel vom Ich zeigen nun die Weiden in der Natur die historische Wahrheit an. Das Ich scheint nun seinen Existenzgrund in der historisch bedingten Gegenwart gefunden zu haben.(18)

Die Wiederherstellung der historischen Perspektive entspricht in den neueren Gedichten dem wiederholten Gebrauch von Bildern, die sich auf Augen, Pupillen, Wimpern oder Blicke beziehen. Statt des nächtlichen Schattens dominiert in der Gedichtsammlung das Tageslicht, das schräg ins Auge fällt. Der Dichter kehrt vermutlich aus seinem "Schweigexil" zurück zu seinem Alltag und nun versucht er, darin zu leben. Die Schrägheit des Lichtes erinnert auch an Celans Sprachwendung "ein unter dem Neigungswinkel seiner Existenz sprechendes Ich" (GW III, S.168).(19) Dieses schräge Tageslicht symbolisiert vielleicht den Entschluß des Dichters, von seinem Alltag her zu uns zu reden.

© Yoko Yamaguchi (Nagoya)

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Anmerkungen:
Literatur

(1) Diese Arbeit basiert auf einem Vortrag, der am 12. November 2000 in Nozawa Onsen Mura im 9. Seminar zur österreichischen Gegenwartsliteratur gehalten wurde. Herrn Robert Schindel und den TeilnehmerInnen verdanke ich viele Hinweise.

(2) So wird z. B. im Gedicht "Herbstlied 3" mit den Zeilen "Doch kaum tun sie sich mit Herz und Hirn bewegen/ Wächst ihnen mitten in der Kält eine/ Vermehrungssprosse" (OL, S.43) direkt auf Celans Gedicht hingewiesen, und auch im "Liebeslied" findet sich eine Anspielung auf das Bild "Halme der Nacht": "Zwischen dir und mir wächst tief das Paradies/ Wir wollen uns gegenseitig vorwärtsführen/ Und ernten uns als Schweigschattenriß" (OL, S.78).

(3) Klaus Weissenberger weist auf den Konflikt zwischen dem formvollendeten Sprachfluß und dem ambivalenten Inhalt dieses Gedichtes hin und versteht diesen Konflikt als den Ausdruck eines elegischen Grundverhaltens. Weissenberger, Klaus: Die Elegie bei Paul Celan. Bern, 1969.

(4) Vgl. Seng, Joachim: Auf den Kreis-Wegen der Dichtung. Zyklische Komposition bei Paul Celan am Beispiel der Gedichtbände bis "Sprachgitter" . Heidelberg 1998, S. 138.

(5) Vgl. Wiedemann-Wolf, Barbara: Antschel Paul - Paul Celan. Studien zum Frühwerk. Tübingen 1985, S. 212, Anm. 106.

(6) Ein bekanntes Beispiel dafür ist das Gedicht "Notturno" (FW, S.54) aus der Bukowiner Zeit, in dem die Pappeln mit dem lateinischen "populus" in Verbindung gebracht und deshalb gleichzeitig als Bäume und als Menschen angesehen werden. Wiedemann-Wolf, a.a.O., S. 59.

(7) Janz, Marlies: Vom Engagement absoluter Poesie. Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans. Frankfurt am Main 1976, S. 39.

(8) Janz, a.a.O., S. 40.

(9) Szondi, Peter: Celan-Studien. Frankfurt am Main 1972, S. 51. In dem noch späteren Gedicht Celans "Und mit dem Buch aus Tarussa" werden die Buchstaben-Halmen in viel komplizierterer Weise in die dichterische Selbstreflexion hineingeflochten: "(…) skytisch/ zusammengereimt/ im Takt/ der Verschlagenen-Schläfe,/ mit/ geatmeten Steppen-/ halmen geschrieben ins Herz/ der Stundenzäsur - (…)" (GW I, S.288)

(10) In einem anderen Gedicht "Die Feste Burg" ist von der "großen Kummerfahne" als "grüne[m] Tuch" die Rede, die auch als Variation des Bildes vom Blatt verstanden werden kann. Dieses Bild schließt sich in dem Gedicht zwar nicht direkt an die Bilder "Blume, Herz und Halm" an, aber spielt auf dessen potentielle Verbundenheit mit ihnen an.

(11) Rilke, Rainer Maria: Das Stunden-Buch. In: Sämtliche Werke. Frankfurt am Main 1987, S. 253. Rilkes Einfluß auf den jungen Celan ist in der Forschungsliteratur schon mehrmals nachgewiesen worden. Vgl. Janz, a.a.O., S. 24-25; Wiedemann-Wolf, a.a.O., S. 195 - 200.

(12) Das Gedicht "Stille!" (GW, S. I 75) aus der gleichen Gedichtsammlung Celans handelt gerade von der Polyvalenz des Wortes.

(13) Im Gedicht "Hinterdrein vorneweg" steht: "Was heißt geht, der ging/ Zwanzigster Jänner/ Durchs Gebirg." (IHK, S. 113) Allerdings soll Schindel beim Verfassen dieses Gedichtes Celans Text noch nicht gekannt haben. Er soll die zitierte Stelle wegen des für die Juden bedeutenden Datums allein auf den Büchnerschen "Lenz" bezogen haben und erst später soll ihm diese Parallelität mit Celan bewußt geworden sein. Nach Schindels Kommentar beim erwähnten Seminar.

(14) Janz, a.a.O., S. 122. Weitere Beispiele vom Einfluß Celans auf Schindel: Im Gedicht "Klagenfurter Frühlingsballade", das wie das Gedicht "Nachthalm" zu der ersten Gedichtsammlung "Ohneland" gehört, findet sich die Wendung "Februar No pasaran" (OL, S.102 ), die Schindel aus dem Gedicht "Schibboleth" (GW I, S.131) zitiert. "No pasaran" (eigentlich "No pasarán") war im Spanischen Bürgerkrieg ein Schibboleth und sollte bedeuten: "Sie, die Faschisten werden nicht durchkommen." Janz, a.a.O., S. 153.

(15) Nach einem Hinweis Schindels im Seminar.

(16) Nach Schindel dürfte Celan diese jiddische Redewendung auch gekannt haben.

(17) Vgl. Janz, a.a.O., S. 44 ff.

(18) Allerdings widersprach Schindel im Seminar meiner Interpretation und beschrieb das Gedicht als pessimistisch, indem er auf das Zitat aus dem "Erlkönig" von Goethe und damit auch auf das Motiv des toten Kindes hinwies.

(19) Paul Celans Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris 1958.


Zitierte Literatur:

Celan, Paul: Gesammelte Werke. Frankfurt am Main 1983, Bd. 1 und Bd.3. (GW I, GW III)

Schindel, Robert: Ohneland. Frankfurt am Main 1986. (OL)
ders: Im Herzen die Krätze. Gedichte. Frankfurt am Main 1988. (IHK)
ders: Gebürtig. Roman. Frankfurt am Main 1994. (G)
ders: Die Nacht der Harlekine. Erzählungen. Frankfurt am Main 1994.(NH)
ders: Gott schütz uns vor den guten Menschen. Jüdisches Gedächtnis - Auskunftsbüro der Angst. Frankfurt am Main 1995. (GS)
ders: Immernie. Gedichte vom Moos der Neunzigerhöhlen. Frankfurt am Main 2000.(IN)

Rilke, Rainer Maria: Das Stunden-Buch. In: Sämtliche Werke. Frankfurt am Main 1987.

Weissenberger, Klaus: Die Elegie bei Paul Celan. Bern 1969.

Szondi, Peter: Celan-Studien. Frankfurt am Main 1972.

Janz, Marlies: Vom Engagement absoluter Poesie. Zur Lyrik und Ästhetik Paul Celans. 1976.

Wiedemann-Wolf, Barbara: Antschel Paul - Paul Celan. Studien zum Frühwerk. Tübingen 1985.

Seng, Joachim: Auf den Kreis-Wegen der Dichtung. Zyklische Komposition bei Paul Celan am Beispiel der Gedichtbände bis "Sprachgitter" . Heidelberg 1998.


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