Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 13. Nr. | Mai 2002 |
Einige Gedanken zu den Begriffen "Gleichnis", "Vergleich", "Metapher"
Naoji
Kimura (Tokio/Regensburg)
[BIO]
Die Japaner sind deshalb berüchtigt, weil sie alles Fortgeschrittene des Westens gleich nachahmen, ja so gründlich, daß sie sogar den europäischen Imperialismus und Kolonialismus nachgeahmt und viel Unheil in Ostasien angerichtet haben. Schon im Jahre 1928 schrieb der Berliner Theologe J. Witte unumwunden: "Die bis zum Jahre 1868 herrschende, japanische Kultur ist chinesischen Ursprungs und Westens [sic]."(1) Als er aber fortfuhr und schrieb: "Vorher war Japan ein kulturarmes, primitives Land, das nicht einmal eine Schriftsprache besaß", war dies bei aller seiner Hochachtung vor dem modernen Japan grundfalsch. Denn es gibt eine umfangreiche japanische Literaturgeschichte seit dem 8. Jahrhundert,(2) und J. Witte selbst räumte im Laufe seiner Ausführungen ein: "Unsere deutsche Kultur ist auch durchaus nicht unser rein eigenes, schöpferisches Produkt, sondern in weitestem Maße auf dem Erbe des griechisch-römischen Geistesbesitzes aufgebaut"(3), und er meinte, so hätten auch die Japaner mit den formalen Mitteln des chinesischen, übernommenen Kulturbesitzes eine eigene Kultur aufgebaut, die auf vielen Gebieten ganz besondere Wege gegangen sei. Das gleiche gilt schon im Hinblick auf das Verhältnis Japans zur chinesischen Klassik. Aber seine gewagte Aussage gibt Anlaß zu bedenken, wie überhaupt die japanische Sprache und die darauf beruhende Sprachkultur geschichtlich unter dem unverkennbar starken Einfluß von seiten Chinas entstanden sind. Es gehört allerdings zu einem anderen Kapitel, ebenfalls auf den westlichen Einfluß einzugehen, da die sogenannte Holländische Wissenschaft seit dem 17. Jahrhundert detaillierte Spezialuntersuchungen erforderlich macht.(4)
Jede Geschichtsschreibung bewegt sich immerhin nicht nur zeitlich, sondern auch geographisch. Deshalb ist es wohl angebracht, mit einem Koordinatensystem zu arbeiten, um ein geschichtliches Ereignis einigermaßen nach seinem Stellenwert zu erfassen. Es handelt sich bei meiner Fragestellung um Ostasien als Räumlichkeit und um eine fast 3000jährige Kulturgeschichte Chinas als Zeitlichkeit. Aber je älter eine geschichtliche Epoche ist, desto gleichgültiger erscheint die räumliche Entfernung, wie beispielsweise zwischen China, Korea und Japan bis zum Mittelalter. Obwohl Japan seit alters ein deutlich begrenztes Inselland darstellt, bleibt dieses Verhältnis innerhalb seiner geschichtlichen Zeit im Grunde unverändert. Vor dem angesprochenen 8. Jahrhundert in der japanischen Literaturgeschichte gibt es also eine prähistorische Zeit, die in die jahrtausendlange Jyomon-Periode und die daran anschließende Yayoi-Periode gegliedert wird. Sie gehört noch in die Jungsteinzeit, sodann in die frühe Bronzezeit und geht mehr die Archäologie als die Literaturgeschichte an. Die an sich zeitlose Epoche der japanischen Mythologie gehört insofern schon der Literaturgeschichte an, als sie in dem 712 entstandenen, ältesten Schriftwerk in japanischer Sprache Kojiki geschildert ist. Sie ist auch räumlich im Westen und Süden Japans ziemlich genau lokalisiert, auch wenn die von den Ainus bewohnte nördliche Insel Hokkaido gar nicht erwähnt ist. Dieses Volk soll ja biologisch mehr mit den Eskimos, den amerikanischen Indianern oder gar mit den Finnen verwandt gewesen sein, als die Beringstraße noch zwischen Sibirien und Alaska verbunden war.
Trotz der Verschiedenheiten in der Syntax sind nun die europäischen Sprachen im großen und ganzen durch die lateinischen, teilweise griechischen Wortwurzeln zusammengehalten. Ebenso steht es in der Tat mit der chinesischen Schrift in Ostasien. "Die chinesische Schrift ist heute die einzige nichtphonetische, hieroglyphische Schrift, die noch verwendet wird. Neben der Fixierung der chinesischen Sprache dient sie auch dem schriftlichen Ausdruck der Sachbedeutungen im Japanischen und im Koreanischen."(5) Es handelt sich dabei zumindest in Bezug auf das Japanische nicht so sehr um die chinesische Sprache als solche, sondern vielmehr um ihre einzelnen Schriftzeichen, die als Piktogramme oder Ideogramme unabhängig von der chinesischen Grammatik im Japanischen verwendet werden können. So kann es eine andere Bewandtnis mit dem Koreanischen haben, als sie darin früher als im Japanischen Verwendung fanden. Taiwan und Hongkong kommen nur insoweit als Sonderbereiche der chinesischen Sprache in Betracht, als die chinesischen Schriftzeichen, die im Festland-China nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge der Rationalisierung stark vereinfacht worden sind, dort heute noch in vollständiger Form gebraucht werden. In Vietnam hat man schon lange die traditionelle chinesische Schrift aufgegeben. Mit dem kulturellen Band in Ostasien ist deshalb gemeint, daß die chinesischen Schriftzeichen grundsätzlich in China, Taiwan, Hongkong, Korea und Japan als gemeinsames Verständigungsmittel funktionieren. Im folgenden geht es aber vor allem um die engen Kulturbeziehungen zwischen China und Japan durch das Band der chinesischen Schriftzeichen.
Zunächst muß man also von der historischen Tatsache ausgehen, daß das japanische Volk bis ins 4. Jahrhundert keine Schrift besaß, während die chinesische Kultur ihren geistigen Ausbau durch Konfuzius (551-478 v. Chr.), Menzius (371-288 v. Chr.) und die anderen Schüler des Meisters erhalten hatte. Die Japaner sprachen zweifellos auch in der jahrhundertelangen vorgeschichtlichen Jomon- und Yayoi-Periode eine eigene Sprache, solange sie als eine einheitliche Volksmasse auf dem Inselreich existierten. Sie sind jedoch von Anfang an ein Mischvolk gewesen, das neben den Ureinwohnern südlicher bzw. nördlicher Herkunft aus den eingewanderten Chinesen, Koreanern oder aus sonstigen Völkern zusammengesetzt war. Der Inselcharakter des Landes mit seiner Abgeschlossenheit, die spätere Einwanderungen verhinderte, scheint den Verschmelzungsprozeß begünstigt zu haben. Ihre Sprache bestand dementsprechend sicherlich aus verschiedenen Elementen der chinesischen, mongolischen, koreanischen, philippinischen, indonesischen oder thailändischen Sprache. Nähere Einzelheiten über diese japanische Mischsprache können nur aus fachwissenschaftlichen Forschungsergebnissen eingeholt werden. Grundsätzlich besteht aber die japanische Sprache aus einem zweifachen Wortschatz: dem sogenannten Wago und dem Kango. Das erstere stammt aus der genuin japanischen Sprache und das letztere aus dem chinesischen Schrifttum sowie den danach in Japan gebildeten Wörtern mit den chinesischen Schriftzeichen.
Von der Entstehung der gesprochenen japanischen Sprache weiß man auf jeden Fall gar nichts, bis seit Anfang des 8. Jahrhunderts schriftliche Zeugnisse mittels der chinesischen Schriftzeichen überliefert werden. Diese stammen vom Han-Volk Chinas und werden in Japan als Kanji bezeichnet. Die Einführung der chinesischen Kultur und Zivilisation in Japan hat sich in drei Perioden vollzogen. In der ersten Periode, die die Zeit von 200-500 n. Chr. umfaßt, ist historisch von großer Bedeutung, daß um 285 der koreanische Gelehrte Wani mit dem Lun Yü ("Gespräche mit Konfutse") nach Japan kam und hier Schrifttum und Bildung aus China verbreitete. Die zweite Periode wurde durch die Einführung des Buddhismus im Jahre 538 oder 552 eingeleitet, weil seine heiligen Schriften des Sutra nicht im Sanskrit, sondern in chinesischer Übersetzung nach Japan überliefert wurden. Die Kaiserin Suiko-Tenno und ihr Regent Kronprinz Shotoku-Taishi (574-622) waren sehr ernste und eifrige Anhänger und Förderer dieses Mahayana-Buddhismus, so daß der Konfuzianismus vorerst im Hintergrund der japanischen Geschichte blieb. Er wurde erst in der Edo-Zeit als Moralkodex für die Führungsschicht des Samurai-Standes richtungsweisend. Die dritte Periode, die etwa bis zum Jahre 700 reicht, bahnte direkte Beziehungen zu China an, ohne daß deshalb der Verkehr mit Korea abgebrochen wurde. Zeugnis davon legen die schönen Buddha-Figuren im Horyuji-Tempel oder Koryuji-Tempel ab, die beide in dieser Zeit errichtet wurden. Shotoku-Taishi schickte eine Gesandtschaft an den chinesischen Kaiserhof und entsandte auch junge Japaner zum Studium nach China. Auf der anderen Seite befürwortete er die Übersiedlung chinesischer Gelehrter, die Kunst und Geistesbildung in Japan wesentlich förderten. Der chinesische Mönch Ganjin, der etwas später nach mehrmaligem Schiffbruch im Jahre 753 nach Japan kam, wird heute noch von den Japanern hoch verehrt.
Im Jahre 712 entstand jenes erste schriftliche Zeugnis Kojiki ("Berichte der Ereignisse im Altertum"), das die japanische Mythologie sowie Frühgeschichte bis zum Jahre 628 behandelt, und im Jahre 720 folgte das zweite, den gleichen Stoff bis zum Jahre 697 darbietende Werk, das Nihonshoki ("Japanische Annalen"). Die älteste Anthologie Manyoshu ("Sammlung von zehntausend Blättern"), die um 760 abgeschlossen wurde, umfaßte in 20 Büchern 4496 Gedichte, Lieder aller Art, auch religiöse. Neben den genannten Geschichtswerken entwickelten sich auch andere Literaturgattungen wie Fudoki, d.h. Beschreibungen von Land und Leuten, oder Ujibumi, d.h. Familienchroniken. Nach diesen Zeugnissen bestand unter den Einwohnern bereits das Bewußtsein, das Volk sei auf dem Boden des Götterlandes Japan erwachsen, wenngleich sein Kulturzustand ohne Schrift noch recht primitiv gewesen sein muß. Indessen ging die Einführung der chinesischen Kultur immer intensiver vor sich. Die Japaner haben denn auch eifrig und geschickt die chinesische Kultur - insbesonders die chinesische Schrift - übernommen und sich ihr immer mehr angepaßt, bis sie imstande waren, daraus eine eigene Schriftkultur zu entwickeln. Das japanischeVolk war offensichtlich aus seinen eigenen Urelementen kulturell schon soweit entwickelt, daß es geistig nicht entfremdet wurde, als es mit dem ostasiatischen Festland und dessen älteren, weit überlegenen Kulturen in Berührung kam. Diese seine geistigen Urelemente können mit dem Begriff Shintoismus zusammengefaßt werden, der sich politisch, ethisch und nicht zuletzt religiös sehr lange in weiten Kreisen des Volkes ausgewirkt hat. Er hat im Verlauf der japanischen Geschichte das Staatsgefüge sowie die Sitten und Bräuche des Volkes entscheidend geprägt, bis er dann vom Konfuzianismus mehr oder weniger tiefgreifend beeinflußt wurde und mit dem Buddhismus weitgehend zusammenschmolz.
So wurden in der Nara-Zeit (710-784) aus den chinesischen Schriftzeichen die zwei bis heute gebräuchlichen Silben-Schriftsysteme geschaffen: das sogenannte Katakana und Hiragana. Wörtlich könnten sie als Fragmentar-Kana und Platt-Kana wiedergegeben werden. Im Unterschied dazu werden die für die echt japanischen Gedichte in der Anthologie Manyoshu nur der Lautung nach entliehenen chinesischen Schriftzeichen als Manyogana bezeichnet. Kana kommt dabei aus Karina im chinesischen Schriftzeichen und bedeutet eine provisorische Schrift im Unterschied zu der Mana genannten echten chinesischen Schrift. Katakana wurde dazu erfunden, die chinesischen Texte mit beigegebenen einfachen Anweisungen für die japanische Syntax lesbar zu machen. In der Heian-Zeit (794-1186), besonders im 9. Jahrhundert, entstand auf diese Weise die erste hohe Blütezeit in der japanischen Literaturgeschichte. Während die Männer noch ausschließlich mit den chinesischen Schriftzeichen schrieben, bedienten sich die gebildeten Hofdamen beim Schreiben des leicht verständlichen Hiragana. Dieses Silben-Schriftsystem erwies sich bald nicht nur als literaturfähig, sondern auch besonders gut zum Dichten in japanischer Sprache geeignet. So fingen auch Schriftsteller an, allmählich mit Hiragana zu schreiben. Das sogenannte Sino-Japanische mit den chinesischen Schriftzeichen Kanji galt damals natürlich nach wie vor als die Sprache der Gelehrsamkeit wie Latein, so daß der Dichtergelehrte Kino Tsurayuki, der sich erstmals in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts des Hiragana für sein literarisches Tagebuch Tosanikki bedient hatte, sich zunächst verstellte und so tat, als ob er eine Frau wäre.
Die Art und Weise, wie das Manyogana, Hiragana und Katakana von den chinesischen Schriftzeichen abgeleitet wurden, ist aufschlußreich, um den Assimilationsprozeß der chinesischen Schrift zu einer japanischen Schrift kennenzulernen. Von den sechs Typen der Wortbildung von chinesischen Schriftzeichen heißt der letzte Typ Kashaku, der von den ursprünglichen Schriftzeichen nur den Laut entlehnt und hauptsächlich dazu verwendet wird, westliche Personen- und Ortsnamen sowie neuartige Fremdwörter wiederzugeben. Diesem Typus von Schriftzeichen entspricht Manyogana insofern im Prinzip, als die bis dahin nur gesprochenen echt japanischen Wörter erstmals mithilfe der chinesischen Schriftzeichen bestimmten Lauts schriftlich fixiert wurden. Dagegen wurde Katakana von den Schriftzeichen abgeleitet, indem nur ein Bestandteil von ihnen für einen bestimmten Laut in der japanischen Sprache verwendet wurde, um chinesische Texte syntaktisch für die Japaner lesbar zu machen. Es umfaßt auf diese Weise etwa 48 Laute. Hiragana stimmt lautmäßig mit ihnen überein, wurde aber von der kalligraphisch verfeinerten Form einzelner Schriftzeichen entwickelt. Auch diese Silbenschrift war in der japanischen Sprache mit ihrem umfangreichen chinesischen Wortschatz notwendig, weil das Japanische als eine agglutinierende Sprache unbedingt Partikeln oder verbindende Hilfswörter zu den Schriftzeichen aus dem Chinesischen als einer isolierenden Sprache brauchte. Es ist in der Sprachgeschichte höchst merkwürdig, daß das Japanische bei so enger Beziehung zu den chinesischen Schriftzeichen grammatisch überhaupt nicht mit dem Chinesischen verwandt ist.
Die Folge davon ist der Umstand, daß viele Einzelwörter chinesischer Herkunft in der japanischen Sprache fast bis zur Unkenntlichkeit anders ausgesprochen werden als in der chinesischen. Aber die chinesischen Schriftzeichen sind zum großen Teil Ideogramme und erweisen sich hier und dort als Sinn- und Begriffsträger, so daß der Bedeutungsgehalt einzelner Schriftzeichen zu einem guten Teil gleich geblieben ist. Deshalb können sich Chinesen und Japaner im Notfall miteinander ohne weiteres verständigen, indem sie die Schriftzeichen hinschreiben. Es handelt sich dabei allerdings grundsätzlich um einzelne Wörter, die sinnlich wahrnehmbare Gegenstände oder ideelle Dinge, vor allem traditionelle Begriffe aus dem Buddhismus, Konfuzianismus oder Taoismus bezeichnen. Neue Ideen aus der westlichen Philosophie oder Übersetzungswörter für fremde Kulturen bzw. technische Errungenschaften werden meist in Zusammensetzungen anders bezeichnet. Außerdem kommt es sehr oft vor, daß mit den gleichen Schriftzeichen im Japanischen und Chinesischen andere Dinge bezeichnet oder gemeint sind. Ein episodenhaftes Beispiel dafür ist das Wort, das mit den Schriftzeichen für Hand und Papier geschrieben wird. Während es im Japanischen Brief bedeutet, bezeichnet es im Chinesischen Toilettenpapier. Ein anderes Beispiel ist das japanische Wort für einen von der Dampflokomotive geführten Zug, das im Chinesischen ein Auto bedeutet. Bei Zusammensetzungen mit den chinesischen Schriftzeichen muß man also auf die Bedeutungsunterschiede genau aufpassen. Auch im Deutschen stellt sich übrigens ein langer Brief etymologisch als Selbstwiderspruch heraus, da der Brief aus dem lateinischen brevis kommt. Im Englischen bezeichnet das Wort briefs im Sinne von shorts immer noch eine kurze Unterhose.
Sowohl Hiragana als auch Katakana waren, wie gesagt, zunächst im Unterschied zum Mana, also Kanji als Bedeutungsträger nur als Lautung gedacht. Aber im Laufe der Zeit bekamen sie die Funktion, Wörter zu bedeuten. So konnte man nicht nur echt japanische Wörter, sondern auch chinesische Wörter gleichfalls mit Hiragana zu bezeichnen. Dabei entstanden für die chinesischen Schriftzeichen prinzipiell zweierlei Lesarten, nämlich Kun in japanischer Lesart und On in chinesischer Lesart. Diese chinesische Lesart ist jedoch so japanisiert worden, daß sie in China selbst kaum verstanden werden kann. Denn das Japanische wird mit Konsonanten allein ohne Vokale fast nicht ausgesprochen und enthält deswegen zahlreiche Homonyme für chinesische Wörter, die ursprünglich unterschiedlich gelautet haben müssen, wie wenn man für die englischen Wörter night (Nacht) und knight (Ritter) gleichmäßig nite, also mit Hiragana die gleiche Lautung naito schreiben wollte. Beispielsweise werden die japanischen Wörter für Mann und Frau als otoko und onna in Kun-Lesart ausgesprochen, und beide zusammen danjyo in On-Lesart. Im Kontext des Buddhismus, der fromme Männer und Frauen zusammenfaßt, werden aber Mann und Frau danjyo als nannyo ausgesprochen und nähern sich in etwa der chinesischen Aussprache, wie sie bei der Übernahme des Textes wohl gebräuchlich war. Die beiden Lesarten, die in der Praxis noch differenzierter angewendet werden, stellen also wie Hiragana und Katakana einen der Sonderwege in der japanischen Sprache dar.
Daß die japanische Sprachkultur dennoch mit der chinesischen Schrift auf das engste verbunden ist, soll an drei Beispielen demonstriert werden: 1) Altchinesische Gedichte der Handynastie (618-906 n. Chr.), 2) Lun Yü als Klassiker des Konfuzianismus und 3) die Kunst der Kalligraphie. Der Taoismus hat zwar auf die japanische Dichtung anhaltende Einflüsse ausgeübt, wobei nicht so sehr seine Dialektik im Denken, sondern sein Ideal des unbefangenen Einsiedlertums eine größere Rolle spielte. Das Thema ist aber zu umfangreich, um hier behandelt werden zu können. Die Schrift Laotses wird denn auch in Japan weniger gelesen als Lun Yü, während sie im deutschsprachigen Raum anscheinend mehr aus philosophischem Interesse rezipiert worden ist. So hieß es einmal im Geleitwort zu ihrer deutschen Übersetzung:
Tao Te King, das Buch vom Weltgesetz und seinem Wirken, eines der großen Weisheitsbücher der Menschheit, verfaßt etwa 600 v. Chr. durch den chinesischen Weisen Laotse, wird hier in der Übersetzung des verstorbenen Kenners östlicher Weisheit, Walter Jerven, erneut vorgelegt. Die Übersetzung erschien 1928 in unserem Verlag (Scherz Verlag) in einer Luxusausgabe und 1952 in einer größeren Auflage als Kleinbändchen. Beide Ausgaben waren schnell vergriffen. Nun erscheint dieses Buch der Weisheit in einer einmaligen Neuausgabe, in der Annahme, daß diese Weltanschauung und Seelenführung gerade in unserer Zeit vielen Suchenden Besinnung und Weg sein kann.(6)
Was die sogenannten Tang-Gedichte anbelangt, so sind sie in Japan wie eine eigene Dichtung beliebt, wie überhaupt verschiedene literarische Texte der chinesischen Klassik im Rahmen des Japanischunterrichts in der Mittel- und Oberschule neben dem klassischen und modernen Japanisch behandelt werden. Dabei werden Originaltexte in chinesischer Sprache ohne weiteres abgedruckt, und zwar meist mit einer Paraphrase in der japanischen Syntax und mit den dazu notwendigen Partikeln in Katakana bzw. Hiragana. Diesen japanisierten Text eines bekannten Gedichts von Du Fu mit der Überschrift "Frühlingshoffnung" habe ich einmal vor den chinesischen Studenten in Peking vorgelesen. Niemand verstand ihn. Als ich ihn aber an die Tafel schrieb, haben sie alle sofort das Gedicht wieder erkannt. Die japanischen Gebildeten der älteren Generation sind mit den Tang-Gedichten so gut vertraut, daß die chinesischen Texte mit den entsprechenden Landschaftszenen oft in einem literarischen Fernsehprogramm zitiert und in japanischer Sprache vorgetragen werden. Es ist keine Übersetzung im eigentlichen Sinne, sondern eher als eine assimilierte Naturlyrik in der japanischen Dichtung anzusprechen.
Konfutses Gespräche mit seinen Jüngern Lun Yü wird in Japan seit alters her vergleichsweise wie Eckermanns Gespräche mit Goethe gelesen. Über die Stellung des konfuzianischen Werkes in der literarischen Tradition Chinas schreibt zwar der deutsche Sinologe Richard Wilhelm in seiner Einführung folgendes:
Daß die Lun Yü nicht zu den alten Werken chinesischer Literatur gehören, beweist auch der Umstand, daß sie nicht unter den fünf Klassikern (Ging) stehen, sondern unter den erst in neuerer Zeit als Schriften zweiten Ranges rezipierten vier Schriften (Schu). Wir werden daher bei aller Anerkennung dessen, daß sie gutes, zuverlässiges Material enthalten, zu dem Schluß kommen müssen, daß sie ihre heutige Gestalt erst in der Handynastie erhalten haben.(7)
Aber in ihrer Wirkung dürfte diese Schrift unter den "Vier Schu und fünf Ging", deren Studium im chinesischen Original zur fundamentalen Bildung des Samurai-Standes in der Edo-Zeit gehörte, von größter Bedeutung gewesen sein. Damals schrieben die japanischen Konfuzianer Ogyuu Sorai oder Sato Jinsai Kommentare zum Lun Yü, die von den chinesischen Gelehrten beachtet wurden. Obwohl Konfutses Schrift während der Kulturrevolution in China verworfen wurde, wird sie in Japan heute noch ununterbrochen kommentiert und gelesen. Die Publikationsform sieht folgendermaßen aus: Dem chinesischen Originaltext folgt der paraphrasierte Text in japanischer Sprache, der dann wie in einer gewöhnlichen kommentierten Klassikerausgabe erläutert wird. Da die gleichen Schriftzeichen weiterhin verwenden werden, empfindet der Leser kaum den Unterschied des chinesischen und japanischen Text. Die chinesische Originalaussprache spielt dabei keine Rolle. Wenn heutzutage im Zusammenhang mit der kapitalistischen Wiederbelebung der Tradition vom Neokonfuzianismus in China die Rede ist, so müßte man berücksichtigen, daß man sich in Japan schon seit der Edo-Zeit erfolgreich darum bemüht hat.
Die Kalligraphie ist wesentlich eine darstellende Kunst, die die chinesischen Schriftzeichen als solche künstlerisch gestaltet. Sie hat eine lange Tradition in China und hat im Laufe der Jahrhunderte wie in der Tuschmalerei eine ganze Reihe herausragender Meister hervorgebracht. Als ein Volk, das sich die chinesischen Schriftzeichen als Kanji angeeignet hat, können die Japaner glücklicherweise die künstlerische Schönheit der Kalligraphie genau so wie die Chinesen bewundern und ebenfalls selbst hervorbringen. Zudem haben sie auch aus Hiragana eine kalligraphische Form entwickelt und mit Kanji zusammen eine eigene Kalligraphie schaffen können. Vor allem werden die traditionellen Gedichte wie Waka oder Haiku noch heute gern mit dem Pinsel kalligraphisch geschrieben. Da die Kalligraphie eine hohe Kunst für sich ist, kann sich selbstverständlich nicht jeder leisten, schöne Kanji oder Hiragana mit dem Pinsel zu schreiben. Man muß dies schon in der Schule lernen und viel üben. Um aber ein Künstler in der Kalligraphie werden zu können, braucht man letzten Endes wie in jeder Kunst eine geniale Begabung. Wahrscheinlich ist jedoch die Kunst der Kalligraphie auf den chinesischen, koreanischen und japanischen Kulturkreis beschränkt, da sie ein gründliches Verständnis für die chinesische Sprache und Literatur voraussetzt. Sie ist etwas anderes als die Karolingische Minuskel oder die Schönschreiberei in Europa, deren Formschönheit mit Recht bewundert wird. Sie ist Form und Inhalt zugleich, indem nur anspruchsvolle literarische Texte künstlerisch geschrieben werden. Hohe kalligraphische Werke gelten also in Ostasien wie Zeichnungen, Aquarelle oder Gemälde als Kunstwerke.
Im großen und ganzen läßt sich sagen, daß die chinesischen Schriftzeichen das kulturelle Band speziell für Ostasien darstellen. Wie die chinesische Mauer bilden sie offensichtlich eine hohe Sprachbarriere für den Westen. Sie trennen einerseits die chinesische Kultur von den übrigen Kulturen im Nahen Osten und im Westen, verbinden aber andererseits die fernöstlichen Kulturen miteinander. Besonders für Japan erweisen sie sich als Schicksal und Segen; Schicksal, insofern, als die japanische Sprache geschichtlich zutiefst durch dieses an sich fremde Sprachgut geprägt ist, Segen, weil sie eine hochentwickelte Kultur frühzeitig mit sich brachten und dadurch die damals noch primitive japanische Kultur unendlich bereichert haben. Es waren ja nicht nur die Schriftzeichen, die die Japaner fast vor zwei Jahrtausenden von China übernommen haben, sondern auch die damit ausgedrückte chinesische Sprachkultur. Es war schon seit dem Jahre 200 n. Chr., daß Japan die Geisteskultur des Konfuzianismus aufnahm und sogar seine Verwaltung mehr und mehr nach chinesischem Vorbild formte. So war der Konfuzianismus gleichzeitig der Schrittmacher des Buddhismus in Japan, zumal dieser, wie oben erwähnt, in chinesischer Sprache nach Japan überliefert wurde. Außerdem konnten sich die Japaner im Mittelalter mit der ganzen chinesischen Literatur vertraut machen und konnten selber mit chinesischen Schriftzeichen Gedichte schreiben. Dieser kulturgeschichtliche Prozeß in Ostasien war zweifellos von größter Tragweite, weil Japan auf dieser Basis später noch engen Kontakt mit der westlichen Kultur aufnahm. Auf diese Weise befindet sich dieses an sich kleine Inselland heute im Schnittpunkt östlicher und westlicher Kultur und ist gewissermaßen in der Lage, eine Zubringerrolle für die sich heranbildende Weltkultur im 21. Jahrhundert zu spielen.
© Naoji Kimura (Tokio/Regensburg)
ANMERKUNGEN
(1) Johannes Witte: Japan zwischen zwei Kulturen. J.C.Hinrichs'sche Buchhandlung. Leipzig 1928, S.2.
(2) Vgl. Shuichi Kato:Geschichte der japanischen Literatur. Die Entwicklung der poetischen, epischen, dramatischen und essayistisch-philosophischen Literatur Japans von den Anfängen bis zur Gegenwart. Scherz Verlag Bern, München, Wien 1990.
(3) J. Witte, a.a.O., S.5.
(4) Vgl. Naoji Kimura: Jenseits von Weimar. Goethes Weg zum Fernen Osten. Peter Lang Verlag, Bern 1997. 2. Aufl. 2001.
(5) Wang Hongyuan: Vom Ursprung der chinesischen Schrift. Vorwort von Klaus Kaden. Sinolingua Beijing, Beijing 1997, S. III.
(6) Vgl. Laotse: Tao Te King. Das Buch vom Weltgesetz und seinem Wirken. Wiedergabe des chinesischen Textes durch Walter Jerven. Otto Wilhelm Barth Verlag. 2. Aufl. 1976.
(7) Kungfutse. Gespräche (Lun Yü). Aus dem Chinesischen ins Deutsche übersetzt und erläutert von Richard Wilhelm. Eugen Diederichs Verlag, Düsseldorf-Köln 1955, S.33. Vgl. auch Naoji Kimura: Konfutses Lun Yü in deutscher Übersetzung. In: Beata Hammerschmid u. Hermann Krapoth (Hrsg.), Übersetzung als kultureller Prozeß. Rezeption, Projektion und Konstruktion des Fremden. Erich Schmidt Verlag. Berlin 1998, S.213-227.
For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Naoji Kimura: Die chinesischen Schriftzeichen als das kulturelle
Band in Ostasien. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften.
No. 13/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/13Nr/kimura13.htm.