Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 14. Nr. Dezember 2002

Der gespaltene Kontinent Eurasien

Naoji Kimura (Tokio)
[BIO]

 

Der Kontinent bedeutet bekanntlich im Lateinischen "zusammenhängendes Land". Nach dem heutigen Wortgebrauch bedeutet er lediglich ein Festland oder Erdteile. Beim ersteren ist besonders Europa und beim letzteren sind Asien, Afrika, Amerika oder Australien gemeint. Daneben gibt es zwar das Wort "Eurasien", das aber erst nachträglich aus Europa und Asien zusammengesetzt worden ist. Diese zusammenfassende Bezeichnung steht eigentlich für die größte zusammenhängende Landmasse der Erde und läßt deshalb im Zeitalter der Globa-lisierung die historisch bedingte Spaltung des einen Kontinents in zwei Erdteile sehr problematisch erscheinen. Die Problematik bei der Spaltung des amerikanischen Kontinents in Nord- und Südamerika liegt wohl sachlich auf einer anderen Ebene, da sie jeweils politisch und religiös motiviert war.

Freilich ist Eurasien ein geographischer Begriff, bei dem alle naturwissenschaftlichen Probleme einschließlich der Klimatologie interdisziplinär behandelt werden können. Geht man geopolitisch aus der Trennung von Europa und Asien als geschichtlicher Gegebenheit aus, so müßte man die Gründe dafür unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachten: religiös, kulturell, sprachlich, wirtschaftlich, politisch, militärisch, nicht zuletzt technisch. Dabei spielten diese Faktoren nicht nur eine verbindende, sondern gerade eine trennende Rolle. Vor allem war es die Religion - wie z.B. bei den Kreuzzügen -, die sich in unmittelbarer Verknüpfung mit Kultur und Sprache verbindend und trennend zugleich ausgewirkt hat. Vor der Frage nach dem Verbindenden der Kulturen müßte man also diese geschichtliche Tatsache genau ins Auge fassen. Es kommt dann auf das Verhältnis von Religion und Kultur zueinander an. Außerdem muß man bei der Periodeneinteilung notgedrungen die Bezeichnung Mittelalter bzw. Neuzeit im europäischen Sinne verwenden, wenngleich sie z.B. mit der Periodisierung der japanischen Geschichtsschreibung nicht ohne weiteres übereinstimmt.

Die Globalisierung, die scheinbar verschiedene Völker und Nationen immer näher zusammen bringt, ist im Laufe der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit durch die Technik zustande gekommen. Ohne auf die Technik zu verzichten, kann man sich faktisch nicht mehr der Globalisierung entziehen. Da die Technik notwendigerweise dazu tendiert, alles gleich zu machen, fördert sie einerseits das bereits vorhandene Gemeinsame in den Kulturen einzelner Regionen in Europa und Asien, droht aber andererseits regionale Unterschiede der Kulturen zu verwischen oder gar zu zerstören. Eine Reaktion gegen die überhandnehmende Internationalisierung unter starkem Einfluß der Zivilisation ist unverkennbar der Regionalismus, der, wenn nicht nationalistisch, so doch fundamentalistisch-religiös die eigene Kultur in den Vordergrund stellt. Die Technik ist jedoch mit der Wirtschaft eng verbunden, die international mit der Politik Hand in Hand geht, und die Kultur kann im Grunde genommen nicht gedeihen, ohne wohlgeordnetes Leben im Reichtum, das heutezutage weitgehend durch die Technik ermöglicht wird.

Im Altertum gab es auf der Erde jedenfalls zwei kulturelle Pole - Europa und Ostasien -, die immerhin über den Orient durch die Seidenstraße spärlich miteinander verbunden waren.(1) Darüber gibt die Einleitung einer 1942 erschienenen deutschen Übersetzung von Konfuzius' Lun Yü einen guten Überblick: "Die Verbindung Europas mit China geht schon aufs erste nachchristliche Jahrhundert zurück. Zwischen Römern und Chinesen bestand zwar seitdem reger Handelsverkehr, auch diplomatische Beziehungen wurden unterhalten; doch ist von den Eindrücken, die Rom von der chinesischen Kultur bekommen haben muß, nichts bekannt geworden. Auch die seit dem 6. Jahrhundert gelegentlich einsetzenden Christenmissionen, deren Träger zunächst vertriebene Nestorianer, 600 Jahre später, im 13. Jahrhundert, franziskanische Mönche und wieder 200 Jahre später die Dominikaner waren, gerieten immer wieder in Vergessenheit und hinterließen weder in China noch in Europa irgendwelche Nachwirkungen."(2)

Im Mittelalter fiel Europa nach dem Untergang des Römischen Reiches auseinander, obwohl abendländisch-christliche, slawisch-orthodoxe und orientalisch-islamische Kulturkreise noch in ständigem Kontakt geblieben waren. Indien bildete dabei zwischen Europa und Ostasien religiös und kulturell eine eigene Welt, wo denn auch Goethe mit seinem West-östlichen Divan aufhörte. Dagegen war Ostasien zumindest kulturell unter dem großen Einfluß Chinas noch ziemlich einheitlich, bis der europäische Kolonialismus aufkam und Japan nach der Landesöffnung im Jahre 1854 sich zusehends verwestlichte. Die zwei Slogans in der Meiji-Zeit (1868-1912) lauteten: "Weg von Asien und sich Europa zuwenden" sowie "Japanische Seele und westliche Fähigkeit". Diese Einstellung der modernen Japaner ist der letzte Grund dafür, warum eine Asiatische Union analog zur EU wenig Aussicht hat. Wurde doch Japan selbst seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine Kolonialmacht und richtete mit seinem Nationalismus so viel Unheil in Ostasien an. Dadurch zerfiel auch Ostasien in der Neuzeit wie Europa nach dem Dreißigjährigen Krieg in selbständige Einzelnationen.

Bis die Spaltung Eurasiens im Verlauf der Geschichte so weit gekommen ist, hat es auf dem einen eurasischen Kontinent allerdings ein Nebeneinander von zwei großen Kulturkreisen gegeben, die sich jeweils im Altertum, im frühen Mittelalter und im Spätmittelalter unabhängig voneinander herausgebildet haben. Es handelt sich dabei um die Parallelität von Philosophie, Reichsgründung und Feudalsystem bzw. Lehenswesen, die in Europa und Ostasien mehr oder weniger zur gleichen Zeit in äußerlich ähnlicher Gestalt entstanden sind. Deshalb könnte man hier mit Recht von "der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" sprechen. Merkwürdigerweise stimmte vor allem die Blütezeit der griechischen Philosophie mit der der chinesischen Philosophie ungefähr überein. Etwas früher als die Zeiten, in denen Sokrates (470 v. Chr.-399 v. Chr.), Platon (427 v. Chr.-347 v. Chr.) und Aristoteles (384 v. Chr.-322 v. Chr.) die Grundlage des europäischen Denkens schufen, lebten nämlich die beiden Altmeister des chinesischen Denkens, Laotse und Konfuzius (551 v. Chr.-479 v. Chr.). Nach der DCberlieferung soll Laotse im Jahre 604 v. Chr. geboren sein, so daß Konfuzius seine philosophische Lehre des Nichtstuns gekannt und in Auseinandersetzung damit die entgegengesetzte praktische Staatsphilosophie entwickelt haben könnte. In der Geisteshaltung und Denkweise könnten sie auch in etwa mit dem Idealisten Platon und dem Empiriker Aristoteles verglichen werden. Vor und zu Lebzeiten Alexanders des Großen (356-323 v. Chr.), dessen Lehrer Aristoteles war, gab es in China - wenn auch mehr durch Legenden als historisch bezeugt - bereits die Xia-Dynastie (21.-16. Jh. v. Chr.) und die Shang-Dynastie (16.-11. Jh. v. Chr.). Nach der anschließenden Zhou-Dynastie (1030-222 v. Chr.) der geschichtlichen Zeit gründete dann der chineschische Kaiser Qin das erste Großreich (221-207 v. Chr.) und ließ die Chinesische Mauer errichten. Trotz des Unterschieds von hundert Jahren könnte man die beiden Welteroberer als Herrschertypen im Altertum miteinander vergleichen. Auch während der Herrschaft des Römischen Reiches (509-476 v. Chr.) existierte die Han-Dynastie (202 v. Chr.-220 n. Chr.) im Chinesischen Reich und dehnte ihre politische Macht bis nach Zentral- und Südostasien aus. Die beiden Weltreiche in Ost und West würden sich angemessen in allen Bereichen des öffentlichen und privaten Lebens vergleichen lassen. Ähnlich verhält es sich zwischen dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (962-1806) mit verschiedenen Herrscherlinien auf der einen und dem Chinesischen Reich von der Sui-Dynastie (581-618) bis zur Qing-Dynastie (1644-1911) auf der anderen Seite.

Was das Feudalsystem bzw. das Lehenswesen anbelangt, so läßt sich der japanische Samurai-Stand seit der Kamakura-Zeit (1186-1300) am besten zum Vergleich mit dem europäischen Rittertum heranziehen. Das Feudalsystem bildete hier wie dort den gesellschaftlichen Hintergrund, und die meisten Samurai dienten üblicherweise wie die Ministeriale in Deutschland einem Dienstherrn am Hof als treue Gefolgschaft. Der Dienstherr bekam seinerseits sein Lehen von dem Shogun als dem höchsten Herrscher Japans, der formal vom Tenno, dem japanischen Kaiser, die Legitimation zur Herrschaft über ganz Japan erhalten hatte. Die theokratische Stellung und Würde des Tenno waren seit dem Anfang der japanischen Geschichte irgendwie mythologisch begründet(3) sowie der König oder Kaiser in der Christenheit ihre politische Macht letztlich auf Gott zurückführen mußten. Auf diese Weise bestand auch in Japan eine Hierarchie innerhalb des Samurai-Standes. In der Edo-Zeit (1603-1867), wo es keinen Bürgerkrieg mehr gab, waren die Samurai keine Krieger mehr und stellten vielmehr das Beamtentum dar in der vergleichsweise absolutistischen Monarchie des Tokugawa-Shogunats.

Abgesehen von der Seidenstraße sind die beiden Erdteile von Eurasien vor der Neuzeit mindestens dreimal in Berührung gekommen.(4) Zum einen war es die Invasion des Mongolenherrschers Tschingis Khan (1167?-1227) im 13. Jahrhundert, der ganz Zentralasien unterwarf und bis zur Wolga und zum Indus vordrang. Hinzu wäre noch die Gründung des Osmanischen Türkenreiches am Anfang des 14. Jahrhunderts zu rechnen. Seine Expansion dauerte ja bis zur zweiten Belagerung Wiens im Jahre 1683. Zum anderen war es die Entdeckung des Seewegs nach Indien durch die Portugiesen und Spanier am Ende des 15. Jahrhunderts. So kam schließlich der spanische Jesuit Franz Xaver im Jahre 1549 aus Malacca nach Japan und leitete die sogenannte Xirishitan-Zeit der japanischen Geschichte im 16. Jahrhundert ein. Seine Missionierung ist als eine nach auswärts gerichtete Gegenreformation anzusehen. Damals wurden die Spanier sowie Portugiesen als Nambanjin, d.h. "Fremde aus dem Süden" bezeichnet, weil sie von Indonesien her kamen, während die protestantischen Holländer, die später nach der Christenverfolgung als die einzigen Europäer in Japan zugelassen waren, Koomou, d.h. "Rothaarige" genannt wurden. Es waren letzten Endes die militärisch-politischen Ereignisse, die zur tiefgreifenden Spaltung des eurasischen Kontinents geführt haben. Denn Europa sah sich genötigt, sich gegen Asien mit allen Mitteln wehren zu müssen, und Ostasien, vor allem Japan mußte sein Land gegen den Westen abschließen, um nicht wie China im Opium-Krieg (1840-42) dem europäischen Kolonialismus zum Opfer zu fallen.

Heutzutage scheint die Gespaltenheit des eurasischen Kontinents auf den ersten Blick durch die Fluglinien sowie Neue Medien, insbesondere durch E-Mail und Internet überwunden worden zu sein. Aber Japan ist trotz allem heute noch für viele Europäer eine terra incognita. Gewiß wissen sie schon viel von Japan, aber dieses Wissen ist vielfach problematisch, weil es meist einseitig und vereinzelt ist. So wird die Fragestellung im Hinblick auf Japan allzu oft auf eine simple Gegenüberstellung zurückgeführt: "Ist Japan das Land der Elektronik oder das Land des Zen-Buddhismus? Ist es das Land der Wirtschaftskapitäne oder das Land der Samurai?"(5) Hochentwickelte Technik sowie Wirtschaftsmacht einerseits und die rätselhafte buddhistische Mystik sowie die althergebrachte konfuzianische Ethik in den Gebildetenkreisen andererseits, das ist mehr oder weniger das allgemein verbreitete Japanbild nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Frage müßte vielmehr lauten, wann Japan dazu kam, den Westen zu entdecken, und wie es ihm gelungen ist, dieses Fremde für das Eigene zu assimilieren.(6)

Für das Eigene haben die Japaner das ganze Mittelalter hindurch die chinesische Sprache und Kultur fleißig studiert, die sich hauptsächlich auf Tugendlehre, Philosophie und Literatur erstreckten. Auch die traditionelle chinesische Medizin spielte für sie eine große Rolle. Im Laufe des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit sollte sich aber ein entscheidender Paradigmenwechsel vom Osten zum Westen vollziehen, indem die jungen Samurai begonnen haben, unter dem Namen der "Holländischen Wissenschaft" zuerst die europäische Medizin zu studieren, um sich dann der ganzen westlichen Zivilisation zuzuwenden.(7) Weil diese technologische Vorbereitung während der "Sakoku" genannten Landesabschließung (1633-1854) wie im Mutterleib vorausgegangen war, konnte Japan in der Meiji-Zeit so schnell in die Moderne vorstoßen. Was in Europa als traditionelle japanische Künste gefeiert wird, also Kabuki-Theater, Bunraku-Puppenspiel, Farbholzschnitte Ukiyo-e oder Haiku-Dichtung, sind historisch gesehen eine Subkultur des japanischen Bürgertums in der Edo-Zeit gewesen, während die intellektuellen Samurai die Führungsschicht der entsprechenden Tokugawa-Periode bildeten. Die eigentlichen Bildungsträger, die damals den kulturellen Kontakt mit dem Westen aufnahmen, kamen eben aus dem Samurai-Stand. Ohne sie genügend zu berücksichtigen, kann man deshalb die geschichtliche Entwicklung Japans weder richtig verstehen noch angemessen einschätzen. Man kann nicht genug wiederholen, daß es die jungen intellektuellen Samurai waren, die so frühzeitig die rapide Modernisierung Japans vorbereiteten.

© Naoji Kimura (Tokio)

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ANMERKUNGEN

(1)  Das Problem von Eurasien wird heutzutage nicht nur unter dem kulturellen, sondern auch bewußt unter dem wirtschaftlichen Gesichtspunkt aufgegriffen. Vgl. Bachor, Firus: Kulturelle Begegnungen an der alten Seidenstraße. In: Ibykus. Nr. 80 / 2002. "Der eurasische Kontinent ist der Schlüssel zum Wiederaufbau der ganzen Weltwirtschaft [...] es ist sehr bedauerlich, daß die großen Potentiale Eurasiens nicht genutzt werden. Anstatt zusammenzuarbeiten, schotten sich Länder wie Usbekistan, Tadschikisten und Kasachstan voneinander und von Rußland ab. Eisenbahnlinien werden unterbrochen, statt neue Linien zu bauen, die Zentralasien mit Rußland, Europa und China verbinden. Eine neue Seidenstraße ist notwendig!" (S. 19).

(2) Worte des Konfuzius. Bearbeitet und eingeleitet von Rudolf Wrede. Paul Hugendubel Verlag München 1942. S. 51.

(3) Vgl. Kimura, Naoji: Die japanische Geschichte im Gedächtnis der Götter. In: Herbert Arlt (Hrsg.) Erinnern und Vergessen als Denkprinzipien. Röhrig Universitäts Verlag. St. Ingbert 2002. S. 89-99.

(4) Näheres über die Seidenstraße vgl. Drege, Jean-Pierre / Bührer, Emil M.: Seidenstraße. Motovun Verlagsgesellschaft AG, Luzern 1986. Sonderausgabe Köln 2002; Deterding, Frank: Die Seidenstraße. Gondrom Verlag GmbH. Bindlach 1996; Baumann, Bruno: Abenteuer Seidenstraße. Auf den Spuren alter Karawanenwege. F.A. Herbig Verlagsbuchhandlung GmbH. München 1997.

(5) Seemann, Heinrich: Japan Ferner Osten oder Ferner Westen. Verlag Bandell. Stuttgart 1978. Werbetext auf der Umschlagseite.

(6) Vgl. Dambmann, Gerhard: Wie Japan den Westen entdeckte. Eine Geschichte in Farbholzschnitten. Belser Verlag. Stuttgart / Zürich 1988.

(7) Näheres vgl. Kimura, Naoji: Jenseits von Weimar. Goethes Weg zum Fernen Osten. Bern 1997. Schlußbetrachtung: Gestaltung des neuzeitlichen Japans durch die Jünger der sog. Holländischen Wissenschaft, S. 507-523.


For quotation purposes - Zitierempfehlung:
Naoji Kimura (Tokio): Der gespaltene Kontinent Eurasien. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 14/2002.
WWW: http://www.inst.at/trans/14Nr/kimura14.htm.

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