Trans | Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 16. Nr. | Mai 2006 | |
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Herbert Arlt (INST, Wien)
[BIO]
Innovationen und Reproduktionen sind die beiden wesentlichsten Elemente der Wissensproduktion und der Wissensverbreitung. Sie bilden sich unter konkreten kulturellen bzw. gesellschaftlichen Bedingungen heraus. Die Folgen der Innovationen und Reproduktionen können sowohl zum Reichtum der Menschen beitragen als auch zum Leid und zur Vernichtung.
Tradition des INST ist seit seiner Gründung, seine Strategie immer eng in Wechselwirkung mit internationalen Organisationen wie der UNESCO, dem Europarat und der Europäische Union herauszuarbeiten. Es ist mir daher auch im Fall der Konferenz "Innovationen und Reproduktionen in Kulturen und Gesellschaften" ein Anliegen, Dokumente und Überlegungen dieser Organisationen einzubeziehen.
In der Gegenwart hat sich ein Konsens im weltweiten Diskurs herausgebildet, dass Globalisierung, Wissen und Kommunikation die wesentlichsten Faktoren der Entwicklung von Gesellschaften sind. Das zeigt auch die Formulierung zur UNESCO-Strategie für die Jahre 2002 bis 2007:
"Overall, it [the UNESCO strategy - H.A.]is formulated around a single unifying theme - UNESCO contributing to peace and human development in an era of globalization through education, the sciences, culture and communication. Thus, it seeks to create a link between UNESCO’s mandate and role on the one hand and, on the other, globalization with a human face."(1)
Interessant an dieser Strategiebildung ist, daß sie sich einerseits auf die Tradition der UNESCO stützt (Bildung, Wissenschaft und Kultur), andererseits als neue Elemente die Globalisierung und die Kommunikation hervorgehoben werden - zwei Elemente der Virtualität, die einander bedingen und durchaus auch ihre materiellen Seiten haben.
Daß Kommunikation als ein virtuelles Element verstanden wird, drückt sich schon in der Terminologie aus: Brief, Telekommunikation, Cyberspace etc. Aber ebenso wie im Fall der Globalisierung wird versucht, die heutige (Massen-)Kommunikation mit Termini einer realen Welt in Verbindung zu bringen: Navigation etc. Tatsächlich aber findet ein virtueller Prozeß statt, an dem Menschen mit unterschiedlichen Möglichkeiten teilnehmen - auch im Rahmen der WWW-Kommunikation. Die UNESCO spricht in diesem Zusammenhang vom "digital divide"(2). Nicht anders ist die Lage im Zusammenhang mit anderen Elementen der Globalisierung:
"The persistence of poverty is especially disturbing as it occurs during a phase of intensifying globalization encompassing and affecting all societal activities, not only the economic and financial fields. It has created unprecedented wealth and well-being, but predominantly for rich countries and wealthier segments of populations, while bypassing or even disempowering the poor, countries and individuals alike."(3)
Die neuen Bedingungen, die hervorgehoben werden, sind aber nicht neue Rohstoffe, neue Maschinen, neue Verarbeitungsmethoden, neue Handelsvolumina, sondern die heutige Globalisierung besteht hauptsächlich aus folgenden Faktoren: Waffentechnologie, Finanzströme, Kommunikation und Vorstellungswelten (i.d. insbesondere die neoliberale Ideologie und Ihre Gegenvorstellungen). Wie noch zu zeigen sein wird, besteht in diesem Kontext auch ein enger Zusammenhang zwischen der Spaltung in der virtuellen und realen Welt der Kommunikation und dem Gefälle des materiellen Reichtums.
Gerade aus diesem Zusammenhang der Ungleichheit heraus wird auch die Formulierung "globalization with a human face"(4) verständlich. Denn ursprünglich war diese Formulierung in den 60er Jahren im Zusammenhang mit dem Prager Frühling geprägt worden. Damals war vom Sozialismus mit dem menschlichen Antlitz als Hoffnung die Rede. Die Idee der sozialen Gerechtigkeit wurde auch damals für gut befunden, aber die Anwendung von Gewalt - nicht nur der Militärischen - wurde abgelehnt. Heute dagegen wird der Einsatz militärischer Gewalt zum Beispiel mit der Durchsetzung von "Demokratie" begründet. Die Folge davon sind vermehrte bewaffnete Konflikte.
Wenn es also um die Darstellung der Bedingungen der Wissensproduktion geht, muß zunächst einmal festgehalten werden, dass sie unter Bedingungen einer Globalisierung geschieht, die nicht nur Ungleichheit, sondern auch Armut und Tod bedingt und dass dies zum Teil durchaus Teil ihrer Programmatik ist. Weiters hat sich im Rahmen einer solchen Globalisierung scheinbar die Innovationen als am erfolgreichsten erwiesen, die die besten Waffentechnologien hervorgebracht haben. Denn die "überlegene" Technologie (Schiffbau, Kanonen etc.) waren die ersten Voraussetzung für eine Globalisierung nach dem heutigen Verständnis, das sich bereits im 15. Jahrhundert herausbildete.(5) Freilich hat sich keine der globalen Mächte aus historischer Sicht lange halten können. Und auch der Irak-Krieg der USA und ihrer Verbündeten zeigt, wie beschränkt ihre Macht ist, obwohl die USA jederzeit in der Lage sind, jeden beliebigen Ort auf dieser Erde zu bombardieren und dies als einzige Macht können.(6) Die Innovation in der Militärtechnologie ist daher selbst für Herrschende nur bedingt nützlich und hat - grundsätzlich betrachtet - die Menschheit an den Rand des Abgrundes geführt. Nach wie vor reichen die Atomwaffen der USA und Russlands dazu aus, die Erde mehrfach zu vernichten. Und die Verweigerung der Abrüstung der Großmächte hat zu einem weltweiten Wettlauf um Atomwaffen geführt, weil nur der Besitz von Atomwaffen eine Abschreckungswirkung besitzt. Das ist eine Lehre, die weltweit auch aus dem unterschiedlichen Verhalten der USA zum Irak und zu Nordkorea gezogen wird. Deshalb fließen - nicht nur in den USA, sondern auch in den ärmsten Ländern dieser Welt - große Anteile des Budgets in das Militär, obwohl die "Innovationen" in diesem Bereich keine gesellschaftlichen Zukunftsaussichten haben.
Weiter muß auch festgehalten werden, dass es nicht der Handel (der Austausch) mit Waren ist, der die Ungleichheit primär entstehen lässt. Die heutige Globalisierung ist - neben der global einsetzbaren Waffentechnologie - vor allem ein Konzept, eine Ideologie (gemeinhin als neoliberale Ideologie bezeichnet). Entgegen der Ideologie des freien Marktes und der Demokratie besteht das Konzept dieser Ideologie aus dem Diktat - gestützt auf die Überlegenheit der Militärtechnologie - der Restriktion des Warenflusses (Agrarprodukte ebenso wie Technologie), des Brain-Drains, der globalen Ausbeutung von Rohstoffen. Teil des Konzeptes dieser Ideologie ist es, alle Bereiche in Ware zu verwandeln: Wasser, Gesundheit, Nahrungsmittel, Wohnungen, Energie, Sex, Wissen etc. - kein Bereich bleibt vom Versuch der Bereicherung verschont. Und das ist auch die Basis für die Konflikte der Gegenwart. Denn die Nicht-Möglichkeit, die Grundbedürfnisse befriedigen zu können, die ein würdevolles Überleben ermöglichen, lässt jenen Stachel entstehen, der schon immer als Folge die Vernichtung des anderen (zumindest als Wunsch bzw. Ideologie) bedingte.(7)
Die Vernichtungen beginnen daher zunächst mit virtuellen (Alltags-)Konzepten. Und diese Konzepte bedienen sich in der Konfliktbeschreibung, selbst den parlamentarischen Konfliktaustragungen etc., der Rituale alter Stammeskämpfe. Freilich lassen sie aber Kontrollmechanismen nicht immer zu, die zum Beispiel bei afrikanischen Stämmen eine Absetzung eines Herrschers zur Folge hatte, wenn er mutwillig einen Krieg begann oder anderweitig das Leben seiner Untertanen gefährdete. Und ohne solche Kontrollmechanismen wird nur die Tradition der willkürlichen Herrschaft fortgeführt.
Wie die UNESCO daher bereits in ihrer Präambel formuliert hat(8), basieren derartige Konzeptionen keineswegs auf Naturnotwendigkeiten. Die Globalisierung als Akte der ökonomischen bzw. militärischen Gewalt ist ein Fehlverhalten der Politik, wie es heute immer wieder und immer deutlicher in politische Sackgassen führt, aus denen es dann keinen Ausweg zu geben scheint. Eine Globalisierung mit menschlichem Antlitz, deren Basis eine Kultur des Friedens ist, basierend auch auf Konfliktregelungen mit Hilfe einer (internationalen) Rechtsordnung, mit open sources im Wissensbereich, offenen Rahmenbedingungen für kreative Arbeit, gemeinnütziger Verwaltung lebenswichtiger Rohstoffe und aller Bereiche des lebensnotwendigen Bedarfs etc. - das ist die andere und durchaus reale Möglichkeit. Hier in diesen Widerspruchsfeldern der Globalisierung zwischen unkontrollierter Machtausübung und offenen, grenzüberschreitenden Kooperationen wird die drohende Destruktion zu einer gesellschaftlichen Realtität, aber es beginnt auch die mögliche Veränderung sichtbar zu werden. Und über neue Aufgabenstellungen in Wissensprozessen nachzudenken, ist in diesem Kontext ebenso ein Teil eines möglichen Veränderungsprozesses wie die Analyse der Bedingungen, unter denen dies möglich ist.
Um die neuen Aufgabenstellungen herauszuarbeiten, muß zunächst einmal darüber nachgedacht werden, was wesentlich in gesellschaftlichen Prozessen ist. Auch wenn noch in den Geschichtsbüchern des 20. Jahrhunderts die "Taten" der HerrscherInnen dominieren, so waren es doch das Feuer, die Schrift, die Kartoffeln, die Elektrizität etc., die das Leben der Menschen revolutionierten und in der Geschichte der Menschheit wirklich bedeutsam waren. Die Gewalt geht dagegen einher mit Destruktion, Verarmung und mit Vergessen. So brachte der militärische Sieg des "christlichen" Spaniens über die Mauren die Verarmung des Alltags. Den Eroberungszügen Hitlers folgte die Zerstörung Deutschlands, den Eroberungszügen Japans die Auslöschung ganzer Städte. Stets haben die Gewaltherrscher versucht, einen Teil ihrer Identität bzw. der Identität ihres Handelns zu verbergen(9), da die Gewalt Furcht einflößt, aber stets auch Ablehnung findet. Ihre Geschichtsschreiber sind - wie im Stück "Vineta" - die Chronologen des Vergessens.(10) Oder wie Canetti schreibt: "An Lobrednern hat es der Macht nie gemangelt. Die Historiker, die professionell von ihr besessen sind, pflegen alles mit der Zeit, hinter der sie sich als Kenner leicht verbergen können, oder mit der Notwendigkeit, die unter ihren Händen jede Gestalt annimmt, zu erklären."(11)
Daher soll in diesem Abschnitt über die innovative Arbeit, ihre andere Form der Wertschöpfung, über die Bedeutung der Reproduktionen dieser Arbeit und Ihre massenhafte Verfügbarkeit, über kontraproduktive Übertragungen, die Bedeutung der Öffentlichkeit, der Demokratie und deren Konzeptionen nachgedacht werden.
Die zentrale These dieses Abschnittes ist, dass mit der Verwendung der Bilder und Zeichen die Wissensrevolution der Menschheit eingeleitet wurde. Die weiteren Schübe dieser Wissensrevolution verbunden mit reicheren Gesellschaften kamen mit neuen Formen der Vervielfältigung (Buchdruck, Zeitschriften, Zeitungen, Radio, Fernsehen, Internet), aber auch mit einem breiteren Zugang zur virtuellen Welt (allgemeine Schulbildung, neue Methoden der Interpretation und Kommunikation).
Im Zentrum steht hier damit zunächst die Reproduktion als zentraler Faktor der Wissensrevolution. Für die Menschen ist die Überlieferung (die Reproduktion) wichtig und eine lebensnotwendige Voraussetzung für Ihre Tätigkeit: Wie wird ein Acker bestellt? Wie stelle ich ein Werkzeug her? Aber diese Überlieferung setzt voraus, dass zunächst überhaupt die Form einer Tätigkeit, eines Werkzeuges (einer Technologie) entdeckt wurde.
Diese Innovationen in Tätigkeiten, Technologie etc. haben eine völlig andere Wertschöpfung als die reproduktiven Tätigkeiten (Ackerbau, Handwerk, Industrie, Dienstleitungen, Bildung, Museen, Medien etc.). Im Falle der reproduktiven Tätigkeit wird Produkt für Produkt ein Wert zugesetzt. Im Falle der innovativen Tätigkeit wird für Gruppen oder sogar Massen eine zum Teil völlig neue Voraussetzung geschaffen, die allgemein eine höhere Wertschöpfung möglich macht. Das gilt nicht nur für den technologischen Bereich, sondern gerade auch für den Bereich des Wissens.
Es sind daher in der Gegenwart nicht nur die Faktoren des Kampfes um die Finanzmittel, die die Kulturindustrie bzw. den Kulturtourismus hervorheben lassen. Sowohl landwirtschaftliche Produkte (in Österreich zum Beispiel der Kürbis, der lange Zeit fast völlig unbeachtet war und heute auch in Haubenlokalen, aber vor allem auch allgemein in Haushalten eine große Rolle spielt) als auch Regionen (zum Beispiel die Berge, die im Mittelalter noch als Warzen der Erde galten) profitieren von diesen Zusätzen. Die Finanzierung von Musical, Oper, Festivals etc. wird unter anderem mit dem Argument der Umwegrentabilität ermöglicht. Weiters haben die neuen Distributionen es ermöglicht, Bilder, Zeichen, Wissen einer breiten Masse zugänglich zu machen, was durchaus den Alltag beeinflusst hat.
Diese Ansätze der Argumentation mit der Absicht zu einer Stärkung des kulturellen Faktors in Gesellschaften führen aber in eine völlig falsche Richtung. So wird versucht, den kreativen Arbeitsbereich (Wissenschaften, Forschung, Künste etc.) industriellen Produktionsbedingungen zu unterwerfen. Das gilt sowohl für die Sozialgesetzgebung als auch für die Verwaltung und damit für wesentliche Rahmenbedingungen kreativer Arbeit. Immer mehr Arbeit ist für die Verwaltung aufzuwenden - gerade auch in Gesellschaften mit starken neoliberalen Einflüssen. Das widerspricht zwar der Ideologie, hat aber insofern eine Logik, als sich die neoliberale Ideologie im Widerspruch mit der Realität befindet. Nirgendwo hat sich erwiesen, dass die neoliberalen Verhältnisse zu einer Verbesserung geführt haben: weder im Bereich der Eisenbahnen (z.B. England) noch der Elektrizität (z.B. Australien) noch der öffentlichen Verkehrsmittel (z.B. New York) noch der Post (z.B. Österreich) etc. Und schon gar nicht im Bereich der Wissensproduktion. Gerade die Realitätsfremdheit der neoliberalen Ansätze erfordert es, gesellschaftswissenschaftliche Analysen nicht zur Kenntnis zu nehmen oder zu verhindern. Denn nichts anders kann das Resultat dieser Analysen sein, als das Versagen dieser Ideologie aufzuzeigen.
Nehmen wir als Beispiel des Versagens der neoliberalen Ideologie die Universitäten und Vereine. Von Südafrika bis zu den USA, von England bis Australien haben sich Prinzipien durchgesetzt, die die industriellen Produktion in einer Phase nachahmen, wo sie gerade an realer Bedeutung in der Gesellschaft abnimmt. Bereits bisher gab es die Trennung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften (Humanities). Hintergrund dafür ist vor allem die bessere industrielle Verwertbarkeit der Naturwissenschaften. Hier wurden nicht Unterschiede von Erkenntnisformen als Basis für die Organisation von Universitäten genommen, sondern die Art der Finanzierung bzw. der Anwendbarkeit in der Produktion. Diese Tendenz setzte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit einer Marginalisierung der Humanities fort, aber zugleich kam mit den Cultural Studies bzw. Kulturwissenschaften auch eine Gegenbewegung zustande. Insgesamt ist mit dieser Art der Industrialisierung der Universitäten eine bedenklich Lage für Wissenschaft und Forschung entstanden.
Nicht anders ist die Lage im alternativen Bereich für Vereine und Einzelpersonen. Obwohl weitaus mehr Firmen in Konkurs gehen als Vereine, wird doch versucht, die Vereinsgesetzgebung der Firmengesetzgebung anzugleichen. Folge ist, dass Private für öffentliche Finanzierungen haften sollen (vor allem nach der Einführung von Basel II). Der Verwaltungsaufwand ist gerade unter neoliberalen Regierungen beträchtlich erhöht worden, womit in keiner Weise eine Genauigkeit der Abrechnungen gesteigert wurde. Vielmehr ist festzuhalten, dass dies systematische bzw. strukturelle Geldverschwendung ist.
In keiner Weise entspricht diese Vorgangsweise weiter heutigen Aufgabenstellungen. Erforderlich wären eine gute Zeichen-, Sprach- und Interpretationsfähigkeit sowie das Können, Konzepte zu entwickeln und umzusetzen. Alles andere sind Wissensbausteine, die gerade heute schnell veralten. Also dominiert der Bedarf, zu verstehen, worin Wissen besteht und wie Wissen ständig erneuert werden kann. Sekundär sind die Wissensbausteine.
Geht man von diesen Prämissen aus, sind Sprach-, Literatur- und Kunstfächer nicht Nebensächlichkeiten, sondern es wären vielmehr gerade die durch diese Fächer vermittelten Fähigkeiten, die die zentrale Voraussetzung für Innovation, aber auch für effiziente Reproduktionen sind. Daran geht aber nicht nur die Universitäts- und Vereinspolitik vorbei, sondern auch der staatliche Umgang mit Sprachen ist im Kern katastrophal. Das zeigt zum Beispiel der Umgang mit der deutschen Sprache. Hier wird seit Jahrzehnten um ein neues Regelwerk gestritten - als ob es um die Regeln ginge und nicht um die neuen Kommunikationsstrukturen und die neuen Kommunikationserfordernisse. Mit dieser Fehlleistung der Herausarbeitung eines nicht akzeptablen Regelwerkes haben es die Beteiligten geschafft, dass die Bedeutung der deutschen Sprache im In- und Ausland gesunken ist, obwohl politisch genau das Gegenteil angestrebt wird.
Aber auch um die Interpretationsfähigkeit ist es nicht besser bestellt. Das zeigt vor allem die grobschlächtige Öffentlichkeit, deren Schlagworte und fette Schlagzeilen auf Reproduktionen basieren, wodurch ebenso die Entwicklung gehemmt wird. Denn die eigentlichen Entwicklungen erfordern den Zugang zu den neuesten Erkenntnissen auch im Alltag, was ebenfalls in der UNESCO-Strategie hervorgehoben wird:
"UNESCO will also be called to play a central role in bridging the divide between traditional knowledge and scientific knowledge, bringing a science perspective to knowledge at community levels. This must be complemented by community-oriented science education, allowing the introduction of scientific perspectives into the daily lives and productions of people."(12)
Nicht eine Elite steht daher im Mittelpunkt, sondern vielmehr geht es darum, für alle andere Bildungsvoraussetzungen, eine andere Öffentlichkeit, andere Konzepte, andere Umsetzungsformen zu schaffen. Hier fehlt es aber in allen Bereichen - auch den Wissenschaften - noch an der notwendigen Offenheit und Differenziertheit. Das aber wäre die Chance für Europa: auf die Innovationsfähigkeit der Hunderttausenden WissenschafterInnen in Europa für einen europäischen Forschungsraum zu setzen. Eine wesentliche Voraussetzung dafür ist, dass die Individuen, Vereine, Universitäten, Forschungseinrichtungen über die notwendigen Grundmittel verfügen, um partizipieren zu können. Nicht die beste Reglementierung bringt den Erfolg und den effizienten Einsatz der Mittel, sondern die besten Rahmenbedingungen für freies Arbeiten in der Öffentlichkeit. Das setzt aber ein Europa voraus, das nicht ein Europa der "Eliten" ist, sondern ein Europa, das auch tatsächlich von deutlichen Mehrheiten getragen wird - gerade in seinen Veränderungen.
Die Herausbildung von wissenschaftlichen Disziplinen im 19. Jahrhundert folgt nicht unbedingt neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen (auch wenn das nicht selten so formuliert wird), sondern orientiert sich an den gesellschaftlichen Gegebenheiten bzw. gestaltet diese auch mit. Die Einrichtung der Sprachfächer folgt in vielen Bereichen den nationalen Anforderungen und ignoriert die Realität gemeinsamer grammatikalischer und lexikalischer Strukturen. Das gilt auch für die Literatur, die Künste, die Geschichtswissenschaften und alle Bereiche, die sich an der Gestaltung der Nation beteiligen. Legitimiert wurde sie von innen durch KollegInnen und von außen durch den privaten oder staatlichen Auftraggeber.
Ebenso wie die Geisteswissenschaften diskreditieren sich auch die Naturwissenschaften in ihrer Anbindung an die gesellschaftlichen Prozesse, von denen in der Öffentlichkeit nicht selten der Eindruck erweckt wird, dass sie - im Gegensatz zu den Geisteswissenschaften - exakte Wissenschaften seien. In Wirklichkeit steht im Mittelpunkt der naturwissenschaftlichen Beweisführung die Reproduktion. Was wiederholt werden kann, ist bewiesen (wobei das eigentliche Problem darin besteht, dass ein zentrales Element dieser Beweisführung ein szientistischer Reduktionismus ist, mit dessen Hilfe spezifische Bedingungen für die Beweisführung geschaffen werden). Auf diese Weise schaffen Naturwissenschaftler immer wieder nicht vorhergesehene Konsequenzen ihres Tuns (z.B. die durch die Regulierung der europäischen Flüsse jetzt immer wieder vorkommenden verheerenden Überschwemmungen)
Sowohl im Fall der Geistes- als auch der Naturwissenschaften hatten die gesellschaftlichen Anbindungen negative Folgen. Waren es im einen Fall die Konzepte für die Gewalt gegen viele, so waren es im anderen Fall die Instrumente und Mittel, die der Gewalt zur Verfügung gestellt wurden. Im Rahmen der Entwicklung eines Europäischen Forschungsraumes als Friedensprojekt wären nun völlig neue Ansätze möglich. Gemäß diesen neuen Bedingungen und Aufgabenstellungen bietet sich unbedingt die Kooperation an:
"Given the enormous speed of scientific discoveries and advances, there is an increasing need for international scientific and intellectual cooperation. Indeed, effective sharing of scientific knowledge and electronic networking and interchanges are becoming ever more critical in bolstering human security and progress, to be reflected in informed policy- and decision making for sustainable development. The 1999 World Conference on Science has charted the way for UNESCO to support and promote scientific cooperation at all levels, drawing on its unique comparative advantage of combing natural and human sciences under one roof."(13)
Eine Kooperation, die in der Praxis der UNESCO und auch in den europäischen Prozessen über die Zusammenarbeit von Disziplinen hinausgeht. Sie baut auf die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Bereiche wie Bildung, Kultur und Erkenntnisgewinnung auf, um so möglichst exzellente Analysen und Vorschläge für ihre strategischen Programme zu erarbeiten. Die Wissensproduktion und -verbreitung muß in diesem Sinne transdisziplinär sein. Ein wesentlicher Punkt sind in diesem Zusammenhang neue gemeinsame Gegenstände der Erkenntnisgewinnung. Neu sind daher vor allem die Gegenstandsbestimmungen und Fragestellungen. Die Methode selber ist meist eine Synergie aus verschiedenen bereits bestehenden Methoden.
Ein derartiger neuer Gegenstand ist der Aufbau einer Wissensgesellschaft, die in der Medium-Term-Strategy 2002 bis 2007 immer wieder hervorgehoben wird. Zu dieser Wissensgesellschaft gibt es aber kaum noch konkrete Vorstellungen - bis auf Vermarktungsstrategien in den unterschiedlichen Bereichen, die sich erkenntnishemmend auswirken und zu erheblichen Konflikten führen. Aber es zeichnen sich auch andere Momente ab:
4.1. Zwar ging der Anteil der Bevölkerung die in der Landwirtschaft tätig sind, seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts drastisch zurück. Auch im Industriebereich sind Abnahmen zu verzeichnen. Dagegen hat der Wissensbereich enorm zugenommen. Damit sind nicht nur die Massenuniversitäten gemeint, sondern vor allem auch die Vielzahl an WissensproduzentInnen, die mittlerweile für fast jeden Lebensbereich Angebote auf den Markt bringen - von der Ernährung über Finanzplanung bis hin zur Politikberatung.
4.2. Grundlage dieser neuen Angebote ist der Reichtum einer Gesellschaft (die ausreichende Produktion an lebensnotwendigen Gütern). Sie setzt voraus, dass auch in die Agrar- und Industrieproduktion erhebliche Erkenntnisse flossen.
4.3. Nach wie vor gibt es aber viele arme Länder auf dieser Welt (der Großteil davon in Afrika). Hier fehlen oft die einfachsten Voraussetzungen für eine Wissensproduktion: die Bildung, die Öffentlichkeit, die Vernetzung via Internet. Dennoch ist es wesentlich leichter, Voraussetzungen für eine Wissensproduktion neuen Typs zu schaffen, als eine Infrastruktur für eine Industrieproduktion zur Verfügung zu stellen bzw. das Kapital für eine solche Produktion aufzubringen. Hier gibt es eine große Chance, sofern dem nicht durch Protektionismus und Monopolismus Schranken gesetzt werden.
4.4. Eine wesentliche Voraussetzung für eine Wissensgesellschaft ist die Urbanisierung der Welt. Diese ist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts rasant vorangeschritten. Ende des 20. Jahrhunderts lebten laut UN-Angaben bereits über 50% der Menschheit in Städten.
4.5. Bisher bestimmten materielle Güter den Austausch. Virtuell war meist nur das Geld. Nun aber wird die Virtualität zu einem entscheidenden Faktor der Austauschbeziehungen - nicht nur als Träger von Kommunikation, sondern auch als wirtschaftlicher Faktor.
4.6. Damit kommt der Zugangsmöglichkeit zur Öffentlichkeit eine strategische Bedeutung zu. Das gilt sowohl für den Zugang zu Informationen und zum Wissen allgemein als auch für die individuellen Möglichkeiten. Entscheidend ist hier der enge Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und (strukturellem sowie funktionellem) Analphabetismus, der nicht nur die ärmsten Ländern belastet, sondern auch in der Europäischen Union ein wesentlicher Faktor der Massenarbeitslosigkeit ist - und damit eine wesentliche Belastung der Gesellschaften. Hier zeigt sich auch, wie nutzlos die Konzentration auf sogenannte "Eliten" ist.
Obwohl Innovation, Wissen, Wissensgesellschaft zu zentralen Schlagworten in der weltweiten Öffentlichkeit geworden sind, wird derzeit noch kaum berücksichtigt, welche Rahmenbedingungen für die Entfaltung dieser qualitativ neuen Form der Produktion notwendig sind. Um den Anforderungen gerecht zu werden, sind Veränderungen in allen Bereichen notwendig - insbesondere auch in der derzeit nach Disziplinen und Fachbereichen zersplitterten Wissensproduktion. Wichtig ist in diesem Zusammenhang nicht nur eine interdisziplinäre Kooperation, sondern eine transdisziplinäre Zusammenarbeit im Rahmen eines Polylogs, der sich den neuen gesellschaftlichen Bedingungen stellt und sie im humanitären Sinne nutzt. Die UNESCO-Strategie bietet dazu wesentlich Anregungen - auch in der strategischen Kooperation bzw. Vernetzung.
© Herbert Arlt (INST, Wien)
ANMERKUNGEN
(1) http://portal.unesco.org/en/ev.php-URL_ID=6331&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html Abfrage vom 30.4.2006. See also: Medium-Term-Strategy 2002-2007. Contributing to peace and human development in an era of globalization through education, the sciences, culture and communication. UNESCO: Paris 2002. (Resolution 31C/4.)
(2) Ebd., S. 4.
(3) Ebd., S. 3.
(4) Siehe Anmerkung 1.
(5) Vgl. dazu: http://www.inst.at/trans/0Nr/arlt2.htm
(6) Vgl. Samuel P. Huntington: Kampf der Kulturen. Europaverlag: München – - Wien 1997, S.130ff.
(7) Vgl. Anm. 5.
(8) Vgl. die Präambel der UNESCO: ‘since wars begin in the minds of men, it is the minds of men that the defences of peace must be constructed’. Im WWW: http://portal.unesco.org/en/ev.php-URL_ID=12780&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html
(9) Vgl. Herbert Arlt (Hrsg.): Erinnern und Vergessen als Denkprinzipien. Röhrig Universitätsverlag: St. Ingbert 2002.
(10) Jura Soyfer: Vineta. In: Jura Soyfer: Szenen und Stücke, Werkausgabe Bd. II, Deuticke: Wien 2002, S. 187ff.
(11) Elias Canetti: Masse und Macht. Frankfurt am Main 1980 (Erstausgabe: Düsseldorf 1960), S.487.
(12) Medium-Term-Strategy 2002-2007, S. 4.
(13) Ebd., S.4.
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