Kulturwissenschaften und Europa

Cultural Collaboratory


Gazi Caglar:
Kultur und Migration
Zum Stellenwert von Kultur in Migrations- und Integrationsprozessen

 
Kultur ist ein Begriff, der immer wieder in unterschiedlichsten Kontexten auftaucht und der für unsere Alltagssprache eine große Rolle spielt. Es ist die Rede von der "eigenen Kultur", von der "fremden Kultur", von der "Essenskultur", von der Kultur im Sinne von Musik, Kunst und Theater, von der "Gesprächskultur", von der "Alltagskultur", von der "Soziokultur", der "italienischen", der "islamischen" und "christlichen", der "türkischen" und "deutschen" Kultur. Kultur dient sogar inzwischen zur Erfindung von Neologismen, die bis vor kurzem in der deutschen Sprache gar nicht existierten: Der merkwürdige Begriff der "Unternehmenskultur" ist zum Beispiel so ein Wort, das unübersehbar dem Zweck der Kompensation des zunehmend größer werdenden Legitimationsdefizits marktradikaler Denk- und Handlungsweisen dient.

Dass der Begriff der Kultur eine so vielfältige Verwendung in unterschiedlichsten Kontexten erfährt, hat etwas Sympathisches: Viele Sphären des gesellschaftlichen Lebens erfahren durch die Verleihung des Prädikats Kultur eine Aufwertung, ihnen wird gewissermaßen ein besonderer Wert zuerkannt. Die inflationäre Verwendung des Kulturbegriffs hat aber auch etwas Beunruhigendes: Es ist nicht mehr klar, wovon eigentlich gesprochen wird. Der Begriff wird inhaltsleer, um dadurch umso mehr mit teilweise Belanglosigkeiten aufgefüllt zu werden. Vielfach wird also so getan, ob Kultur ein "terra cognita" (bekanntes Land) ist. Dabei ist es zumeist ein "terra incognita" (unbekanntes Land).

Allgemein lässt sich vielleicht sagen: Kultur ist alles, was dem Einzelnen erlaubt, sich in der komplexen Welt, in der ausdifferenzierten Gesellschaft und gegenüber der vielfältigen Erzählung von Geschichte zurechtzufinden. Heute wird sich aber niemand auf der komplexen und multi-kulturellen Welt zurecht finden, der vermeintlich angestammte Monokultur fortsetzen will, es sei denn, er greift zur Gewalt. Die aber wäre dem Begriff nach das Gegenteil von Kultur, wenngleich in unseren modernen Gesellschaften Kultur und barbarische Gewalt vielfach dicht beieinander liegen. Insbesondere lässt sich nicht über den Zusammenhang von Kultur und Migration nachdenken, ohne zugleich über Gewalt nachzudenken, die oft und fälschlich als entladener Kulturkonflikt schöngeredet wird.

Kultur als Monokultur: Keine Kultur der Integration

Von Kultur ist zumeist in Form von Monokultur die Rede. Immer wenn die Begriffe "Überfremdung", "Überschwemmung", "Vermischung", "Koloniebildung", "Parallelgesellschaft" u. ä. fallen, ist die non-kulturelle Idee einer "deutschen Leitkultur" nicht weit entfernt. Diese Idee kulturalisiert Politik und politisiert Kultur, um mit der Angst vor Verlust kultureller Werte und Normen, gar vor einer tiefen kulturellen Krise, interkulturelle Verständigungsprozesse zu blockieren und kulturblinden Stimmenfang zu betreiben. Interessant ist, dass man damit zumeist auf die Stimmen derer hofft, die vielfach nicht einmal wissen, wann Deutschland als Nationalstaat entstanden ist, geschweige denn, was die Größen und Inhalte einer "deutschen Leitkultur" sein könnten.

Ein solcher Diskurs ist keine Kulturdebatte, auch wenn sie als solche daher kommt und teilweise so missverstanden wird. Sie ist ein über die Instrumentalisierung der Kultur ausgetragener Versuch der Festschreibung des alten Zustands, in dem die Partizipationsmöglichkeiten der Migrantinnen und Migranten stark eingeschränkt sind. Interessant ist, dass in der einwanderungspolitischen Debatte der vergangenen Jahre die Frage der politischen Partizipation kaum eine Rolle spielt. Die Frage der demokratischen Beteiligung von nichtdeutschen Migrantinnen und Migranten an der politischen Meinungs- und Willensbildung, die in der Vergangenheit zumeist in der Forderung nach einem "Ausländerwahlrecht", also dem aktiven und passiven kommunalen Wahlrecht, zum Ausdruck kam, scheint durch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das kommunale Wahlrecht sei nicht ohne weiteres mit Bestimmungen des Grundgesetzes vereinbar, erledigt zu sein. In der Frage des Wahlrechts hat das Bundesverfassungsgericht auf die Möglichkeit der Einbürgerung verwiesen, die für Migrantinnen und Migranten die einzige Möglichkeit ist, das allgemeine aktive und passive Wahlrecht verliehen zu bekommen, insofern sie keine Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind, die seit 1994 das kommunale Wahlrecht haben. Die Ambivalenzen des Einbürgerungsrechts sind aber allseits bekannt. Für die überwiegende Mehrheit der hier lebenden Migrantinnen und Migranten sind somit kaum Möglichkeiten der klassischen politischen Betätigung vorhanden. Die Ausländerbeiräte, die in manchen Städten wie Hannover aufgelöst und in Migrations- und Integrationsausschüsse umgewandelt werden, sind die einzigen teilweise gewählten Gremien, die allerdings unter einer chronischen Legitimitätsschwäche leiden, da sie zumeist nicht einmal 10 % der Stimmen erreichen. Hinzu kommen ihre Selbstorganisationen und politischen, zumeist an der Politik ihrer Herkunftsländer orientierten politischen Bewegungen mit einer vielfältigen Vereinsstruktur, in denen sie sich am Rande des Gesetzesverstoßes politisch betätigen, weil das Ausländerrecht ihre politischen Betätigungsrechte einschränkt. Im Kern hat das neue Zuwanderungsgesetz, das jetzt vom Bundesverfassungsgericht gestoppt wurde, in § 47 das umfassende "Verbot und Beschränkung der politischen Betätigung" aus dem Ausländergesetz bruchlos übernommen. Mit dem Terroristenbekämpfungsgesetz wurden ferner die spezifischen Verbotsgründe für sogenannte Ausländervereine stärker ausdifferenziert und erweitert.

Es gibt also in der Bundesrepublik eine erhebliche Zahl von Menschen, die teilweise in ihrem ganzen Leben nicht gewählt haben. Dabei ist der periodische Wahlmechanismus die wichtigste Legitimationsbasis repräsentativer Demokratien. Das Demokratieprinzip verbietet es, eine relevante Minderheit in einem demokratischen Verfassungsstaat auf Dauer von der politischen Mitwirkung auszuschließen. Das seit Jahrzehnten bestehende Legitimationsdefizit der deutschen Demokratie, das aus dem Ausschluss vieler Millionen Menschen von den Staatsbürgerrechten unmittelbar folgt, kann nicht lange aufrechterhalten werden, ohne dadurch die Demokratie selbst nachhaltig zu beschädigen. Nur wer aktiv mitgestalten darf, identifiziert sich mit seiner Gesellschaft. Erst auf der Grundlage einer politischen Gleichberechtigung wird ein wirklich interaktiver Integrationsprozess möglich sein, in dem sich Subjekte auf gleicher Augenhöhe begegnen. Damit könnte man auch Rassismus und Diskriminierung ganz anders begegnen. Die rechtliche und politische Ungleichheit zwischen Menschen liefert eine wichtige Voraussetzung für die ideologische Fiktion der Ungleichheit von Menschen. Das Gebot der Stunde ist die längst fällige geistige Akzeptanz einer Verfassungsdemokratie, für die kultureller Pluralismus seiner Bürger selbstverständlich ist.

Der Diskurs der "Leitkultur" zielte im Namen einer Kulturdebatte auf die Verhinderung dieser überfälligen geistig-mentalen Wende in Deutschland. Er wollte die Idee einer homogenen "Nationalkultur" beleben, die immer schon eine Fiktion war und nirgends, also auch nicht in Deutschland, eine Entsprechung in der Vielfalt der Gesellschaft hatte. Er war zudem die Einladung an den "Kampf der Kulturen" Huntingtons, der bekanntlich seine fragwürdige These aus dem scheinbar intern ablaufenden Kampf zwischen den Kulturen in den USA abgeleitet hatte. Ohne die geistig-mentale Absage an die fiktive kulturelle Homogenität der völkischen Nation also wird es Integration als interaktiven Prozess und eine humanitäre Asyl- und Zuwanderungspolitik mit allem dazugehörigen kulturellen Reichtum nicht geben. Daher kann und muss Integration nicht als "Assimilation" an die Deutschen und ihre "Kultur" und kulturellen Überlieferungen erfolgen, sondern als ein Prozess der politischen, rechtlichen, sozialen und kulturellen Integration von Migrantinnen und Migranten und Deutschen in einer sich wandelnden modernen Gesellschaft. Integration kann nur die Überwindung faktischer Ausschlüsse und sozialer Diskriminierung für alle bedeuten, also auch der kulturellen Ausschlussmechanismen, die in der geschichteten Welt des kulturellen Kapitals für alle Subalternen gelten.

Interkultur: Ambivalenzen eines Begriffs

Migration und Integration sind schon immer da gewesene Phänomene menschlicher Existenz auf diesem Globus. Migration und Integration sind vor allem Phänomene, die Kultur ermöglichen. Das scheint eine gewagte These zu sein: Aber kann jemand allen Ernstes irgend ein Medium der Kultur, irgendein Akt der Kultur nennen, der Ergebnis von Abschottung wäre? Sozusagen im vermeintlich warmen Nest des scheinbar Reinen entstanden? Gehört nicht der Spruch Goethe, kein Deutscher könne eine Schuh zuschnallen, der es nicht von einem Ausländer gelernt habe? Kultur und Abschottung, Kultur und die Idee des Reinen, Kultur und die Idee geschlossener Entitäten widersprechen sich der Sache nach. Kultur ist nur in und mit der Beziehung möglich, in der Beziehung zur Natur, in der Beziehung zu Mitmenschen und in der Beziehung zu sich selbst.

Die lange genug imaginierte deutsche Monokultur hat nur den Prozess des Ausschlusses und der Festigung scheinbar natürlicher Ethnoidentitäten unterstützt. In Wechselwirkung mit dieser Fiktion monokultureller Identität haben sich Gruppen von Migrantinnen und Migranten auf ihre scheinbar monokulturellen Identitäten zurückgezogen. In Deutschland scheint für manche mehr als in der Türkei klarer zu sein, was "türkische Kultur" ist. Dabei sind ihre Träger in Deutschland in der Türkei vielfach von den kulturellen Eliten dort als kulturlose Bauern und Arbeitssklaven tituliert worden. Die vermeintliche Existenz dieser Monokulturen hat diejenigen, die von der Notwendigkeit von Verständigungsprozessen überzeugt waren, immer wieder auf die Suche nach Begriffen geschickt, die den intensiven Kulturkontakt fördern könnten. Man erfand den Begriff der Multikultur, kritisierte den, erfand den Begriff der Interkultur, die ebenfalls dem Begriff nach die Existenz von einheitlichen Kulturen suggeriert, aber auf das Dazwischen hinweist, auf die im Dazwischen liegende Freiheit. Man könnte also sagen, dass der Begriff der Interkultur die Wundmale der völkisch verstandenen Einheitskultur in sich trägt. Dennoch: Solange die Veränderung der Begrifflichkeit noch nicht in den Köpfen und den gesellschaftlichen Realitäten angekommen ist, überwiegt beim Begriff der Interkultur der Aspekt der interkulturellen Verständigung. Und das ist gut so!

Kultur als Medium der Integration

Kultur lädt zur Entdeckung ein, beflügelt die Fantasie, die ins unbekannte Land ziehen will, um den Verstand und die Sinne zu bereichern. Die Fantasie lässt sich auf das Andere ein, konsumiert das Andere nicht, sondern ist vorsichtig und hat einen feinen Fühler. Kultur schärft nicht nur den Blick auf Bekanntes und Vertrautes. Kultur hinterfragt vielmehr das vermeintlich Alltägliche, stellt die Selbstverständlichkeiten in neue Zusammenhänge und ermöglicht so den Fortgang des Lebens.

So gibt es auch inzwischen so etwas wie "Migrationskultur" jenseits von folkloristischer Vermarktung kultureller "Eigenarten" der Migrantinnen und Migranten. Sie nimmt die Erfahrung des Fremdseins ernst, lebt von der unbändigen Sehnsucht nach dem globalen Einheimisch-Werden und versucht die Zerrissenheiten des eigenen Daseins als Zerrissenheiten von Gesellschafts- und Welterfahrung überhaupt zu verallgemeinern und so für alle verstehbar, vermittelbar und kommunizierbar zu machen. So schafft sie Solidarität, ermöglicht Empathie und verbindet. Kultur in Migrations- und Integrationsprozessen ist die Zärtlichkeit der Sprachlosen, ist die Sprache derer, die den schwierigen Weg vom "Nix-Verstehen" zum kommunikativen Menschen vielfach von neuem beschreiten müssen.

Die kulturellen Aktivitäten in soziokulturellen Zusammenhängen und Räumen spielen eine enorme Rolle bei der Integration von Menschen deutscher und migrantischer Herkunft in den sich höchst dynamisch wandelnden gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang. Ohne die Kultur und deren zumeist übersehenen Beiträge hätten wir heute wahrscheinlich ein ganz anderes Niveau der Integration. Die Kultur erinnert uns immer wieder daran, dass Menschen nur als Subjekte integriert werden können, nicht als kulturlose Arbeitsmaschinen. Das allein immer wieder klar zu machen, ist die große Leistung der Kultur, der Soziokultur und alles dessen, was unter Interkultur läuft.

Kulturbegegnungen überraschen mit unterschiedlichen Perspektiven und Ausschnitten, regen zum Nachdenken an, lassen Parallelen entstehen und führen zu Schnittpunkten: Der Mensch erfährt in und durch die Kultur nicht nur sich selbst, sondern auch sein Gegenüber, den Anderen. Er erfährt sich selbst und den Anderen als das, was sie sind: Mensch!

Gazi Caglar (Hannover)


Zur Ausstellung

Kulturbegriffe

Motto
Themenübersicht
 

© INST: Institut zur Erforschung und Förderung österreichischer und internationaler Literaturprozesse, 1999