Kulturwissenschaften und Europa
oder die Realität der Virtualität

Motto


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In einer Zeit, in der in den Medien die Krise der "Geisteswissenschaften" allgegenwärtig ist, unter "Kulturwissenschaften" oft nur eine Disziplin statt einer wissenschaftlichen Richtung verstanden wird, kann das Motto der Ausstellung

- "Kulturwissenschaften - die Produktivkraft des 21. Jahrhunderts" -
nicht unkommentiert bleiben.

Ausgangspunkt der Überlegungen für das Motto war, daß die Berücksichtigung kultureller Gegebenheiten für alle Bereiche des Lebens wichtig wird. Das beginnt bei der wichtigsten Rahmenbedingung für menschliche Produktion - dem Frieden. (Ohne Kulturwissenschaften kann das Verbindende der Kulturen nicht in den Mittelpunkt von Entwicklungen gestellt werden.) Kulturelle Bedingungen müssen aber auch im Zusammenhang mit Warenproduktionen berücksichtigt werden. In den UNESCO-Dokumenten finden sich vielfältige Beispiele, daß bewährte Technologien und gesellschaftliche Modelle trotz (z.T. hoher) Finanzmittel scheitern, weil die kulturellen Gegebenheiten in den jeweiligen Ländern nicht berücksichtigt wurden.

Das Motto geht aber noch über diese Bereiche hinaus. Es beschränkt sich nicht auf Bestehendes. Kulturwissenschaft als die Produktivkraft meint auch, daß im Rahmen von neuen gesellschaftlichen Bedingungen in Europa ("Informationsgesellschaft", "Dienstleistungsgesellschaft") sich die gesellschaftlichen Bedeutungen von Kulturwissenschaften grundlegend verändern. Ihr Schwerpunkt wird nicht mehr auf Legitimation, auf Ausbildung, auf Bewahrung, auf Hilfstätigkeiten liegen. Sie können vielmehr als Motor zukünftiger Entwicklungen sein.

Voraussetzung dafür ist die Durchsetzung der Erkenntnis, daß der Mensch im Mittelpunkt der Produktion steht, für Menschen produziert wird. Berücksichtigt werden muß die Vielfältigkeit menschlicher Tätigkeiten, die sich besonders im 21. Jahrhundert immer wieder (sehr) rasch ändern wird.

Diese Annahme, daß mit neuen Produktionsformen der Mensch einen neuen Stellenwert erhält, ist nicht realistisch. Bereits seit Jahrzehnten setzen sich in kleineren und größeren Bereichen Erkenntnisse durch, daß die immer weiter fortschreitende Ablösung von der industriellen Tätigkeit in Europa mit Arbeitsformen verbunden ist, die größere Selbstständigkeit voraussetzen. Das gilt für die Produktion selbst, aber auch für das Managment. Immer mehr kommt es auf Informationen, Informationsauswertung und selbständige Entscheidungen an. Dafür müssen Voraussetzungen in Bildung, Ausbildung, Informationsstrukturen, Mitentscheidungsstrukturen, Öffentlichkeitsstrukturen geschaffen werden.

Überall dort, wo sich moderne Produktionsverhältnisse nicht mit modernen gesellschaftlichen Strukturen verbinden (z.B. im hochindustrialisierten Japan), kann auch eine heute noch erfolgreiche Gesellschaft scheitern, können gewaltsame Konflikte eine immer größere Rolle spielen.
Wenn eine Gesellschaft daran interessiert ist, die absehbare Transformation auf der Basis möglichst sachlicher Entscheidungen zu vollziehen, die Entscheidungen auf sachlicher Basis zur Diskussion zu stellen, wird sie die Notwendigkeit des Einsatzes der Kulturwissenschaften erkennen - von Kulturwissenschaften freilich, die sich auch selbst auf neue Forschungsgegenstände, Forschungsformen, Forschungsrahmenbedingungen einstellen muß. Ebenso muß das Verhältnis von Kulturwissenschaften und Öffentlichkeit grundlegend geändert werden.


Anmerkung:
Vgl.: Creativity and Empowerment. In: Our Creative Diversity. Report of the World Commission on Culture and Development. 1995, S.77ff.  [zurück zum Text
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