Kulturwissenschaften und Europa 

Informationsstrukturen, Wissenschaften, Vorstellungsbildungen

  
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In der europäischen Union gibt es zur Zeit intensive Bemühungen, Grundlagen für eine Informationsgesellschaft zu schaffen. Dabei sind zwei Momente nicht unwesentlich: einmal wird in Europa generell wesentlich weniger in diese Technologien investiert als in den USA(1) und zweitens dominieren nach wie vor technologische Aspekte.

Das Problem des inhaltlichen Konzeptes hängt eng mit der bisher weitgehend fehlenden transnationalen Kulturpolitik der EU zusammen. Zwar werden derzeit unter dem Stichwort "Cultural Policies"(2) in der europäischen Union Anstrengungen unternommen, die kulturellen Prozesse in der Union mit mehr Geldmitteln zu fördern (was sicherlich ein wichtiger Fortschritt wäre), kulturelle Gemeinsamkeiten der Union herausgearbeitet, verschiedene Schwerpunkte gesetzt, aber dennoch gibt es bisher nur sehr bedingt einen Rahmen für grenzüberschreitende Prozesse. Die Vorstellungsbildungen im Sinne der Analyse und Entwürfe kultureller Prozesse sind - im Gegensatz zu den 70er und 80er Jahren - in den Hintergrund gerückt worden. Eine neue Kulturpolitik ist daher notwendig, die Verbindungen zwischen Arbeit und Vorstellungsbildung, zwischen Alltag und Einflußmöglichkeiten auf Entscheidungsprozesse als zentrale Elemente beinhaltet.

Diese Entscheidungsfindung kann nicht ohne verläßliche Quellen und deren Analyse erfolgen. Eine Spezifik in Europa ist, daß die Archivierung von Materialien nicht wenig weit entwickelt ist. Im Vergleich etwa mit Kamerun oder Indien besitzen die meisten europäische Länder ausgezeichnete Sammlungen, die zum Beispiel auch Tageszeitungen aus Kamerun beinhalten, die in Kamerun selbst nicht archiviert werden. Und zwar wird von Robert Musil im Romanfragment "Der Mann ohne Eigenschaften" das Problem dargestellt, Informationen in der Österreichischen Nationalbibliothek angesichts der Fülle des Materials zu finden (3), aber im Gegensatz zu indischen Bibliotheken mit vergleichbaren Materialsammlungen steht zumindestens ein Findsystem zur Verfügung (ganz abgesehen von den neuen Hilfsmitteln, die in jüngster Zeit elektronisch zur Verfügung gestellt werden).

Dennoch entsprechen auch die Zugänglichkeiten von Sammlungen in Europa nicht den Anforderungen heutiger Kulturwissenschaften. Ihre Struktur stammt weitgehend aus dem 19. Jahrhundert, wobei sich aber von Land zu Land große Unterschiede ergeben, die auch in den Ländern selbst noch einmal kontrastiert werden. Als Beispiel für bisherige Informationsstrukturen sollen hier zwei Organisationsformen von Nationalbibliotheken beschrieben werden. In Frankreich wurde die Bibliotheque Nationale in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als nationale Sammlung organisiert, die zum Beispiel den Schriftwechsel der WissenschafterInnen nur insofern dokumentiert, als er in Französisch ist. Dagegen war die Österreichische Nationalbibliothek keine nationale Bibliothek. Nicht nur, daß aus historischen Gründen aus unterschiedlichsten Ländern Materialien wie Papyrusrollen, Stiche, Globen, Fotos, Bücher und neuerdings elektronische Publikationen zusammengetragen wurden und werden, sie besaß auch die längste Zeit keine eigene "Nationalbibliographie". Dennoch hat Österreich, genauso wie Frankreich, Deutschland usw. immer großen Wert auf Sammlungen zu den unterschiedlichsten Aspekten gelegt. Dies ist zum Beispiel in der Schweiz, die ebenfalls ausgezeichnete Sammlungen besitzt, nicht unbedingt in jedem Bereich der Fall (siehe die Auseinandersetzungen um die Errichtung des Literaturarchivs in Bern).

In den 90er Jahren kommen nun neue Momente bei der Informationsstrukturierung hinzu. Nachdem lange Zeit in verschiedenen Ländern die Bedeutung der Archivierung neuer Medien nicht erkannt wurde, werden nun Fernseharchive angelegt, die einen völlig neuen Materialzugang für die Forschung versprechen. Zwar ist vieles bereits vernichtet worden, aber auch das tägliche Material ist aufgrund seiner Fülle schon kaum mehr zu archivieren. Elektronische Bibliographien zu Hörspielen usw. entstehen, die allein bisher im deutschsprachigen Raum etwa 55.000 Hörspiele erfaßt haben dürften. Es entspricht dies auch einer Umorientierung der Politik bei der Absicherung von Macht, die von Josef Haslinger schon in den 80er Jahren beschrieben wurde.

Dagegen treten andere Kommunikationsangebote - wie zum Beispiel die gedruckte Literatur - zurück. Dies ist kein linearer Prozeß, sondern hängt auch mit der Arbeitsweise gerade der wissenschaftlichen Disziplinen zusammen, die sich mit Sprache und Literatur beschäftigen. Gehen wir von den bisherigen Informationsstrukturen aus, so werden wir rasch sehen, daß die kanonisierten Formen wenig geeignet sind, einen offenen Wissenschaftsprozeß zu befördern. Vielmehr sind die bisherigen Informationsstrukturen dazu angetan, Wissenschaftsprozesse vorzuprägen, zu behindern.

An erster Stelle soll in diesem Zusammenhang die Zugänglichkeit von Archiven erwähnen werden. Diese ist in Europa noch keineswegs zufriedenstellend. Die Hindernisse sind je nach Land unterschiedlich. Sie reichen von der Sperrung bis zur Vernichtung. Allein seit 1945 bedeutet dies, daß es nicht wenige "weißen Flecken" des öffentlichen Gedächtnisses gibt, die nicht mehr reperabel sind.

Von diesen Beispielen aus verschiedenen Ländern soll zu Methologischem übergegangen und der Begriff "kanonisierte Selektion" einzuführt werden. In der bisherigen Entwicklung waren die Strukturen der Sammlungen im wesentlichen auf die Wünsche privater und staatlicher Geldgeber abgestimmt. Wurden dann - vor allem seit den 60er Jahren - neue Forschungsbereiche etabliert, war das Material oft nicht mehr vorhanden. Als Beispiele seien Alltagsgeschichte, Frauengeschichte, Friedensgeschichte, Wissenschaftsforschung, Oral History aufgezählt.

Geht man nun davon aus, daß es auch Archive in Europa gibt, die den Elementen Sperrung, Vernichtung, kanonisierte Selektion kaum unterworfen waren, so ist doch noch ein weiteres Problem vorhanden, das aus einem Anspruch der synthetisierenden Forschung entspringt: der Zugänglichkeit von Daten im Zusammenhang mit beschränkten Zeit- und Geldmöglichkeiten.

Zwar hat sich in diesem Bereich vieles verbessert. Wenn man den Aufwand studiert, den ein Wissenschafter auf sich nehmen mußte, wollte er mittelalterliche Schriften im 19. Jahrhundert herausgeben, so haben sich die Verkehrs- und Reproduktionsmöglichkeiten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts doch qualitativ verbessert. Außerdem ist es nicht immer unbedingt notwendig, eine Reise zu unternehmen. Man kann durchaus in Lemberg/Lviv, in Rustschuk/Rousse, in Krakau/Kraków am Bildschirm sitzen und bibliographische Materialien der Österreichischen Nationalbibliothek, österreichische Tageszeitungen usw. studieren, aber auch Informationen aus Datenbanken in den USA, Japan usw. erhalten. Dennoch ist das Informationssystem im Internet bei weitem noch nicht so entwickelt, wie es wünschenswert wäre. Zum Beispiel fehlt dem europäischen Verbund der Nationalbibliotheken eine serverübergreifende Suchmaschine. Suchmaschinen, die vielsprachiges Informationsmaterial so verarbeiten, daß sie möglichst punktgenau sind, gibt es aber noch nicht. Die Verbreitung der Hard- und der Status der Software lassen sehr zu wünschen übrig, was bereits bei der Konferenz "Europäische Literatur- und Sprachwissenschaften" (4) punktuell herausgearbeitet wurde. Und es hat sich gezeigt, daß für eine effektive Gestaltung der neuen Strukturen ein Dialog zwischen den Entwicklern von Informationssystemen, Wissenschaften, Software und Hardware unerläßlich ist. Fragen wie Aufbau der Software, Verwendung von Zeichen, Sicherheit der Systeme, AutorInnenrechte, Verwendung von Programmen usw. betreffen alle, ob sie nun InformatikerInnen, LiteraturwissenschafterInnen, Provider, BibliothekarInnen usw. sind.

Ein weiteres Problemfeld ist die Auswertung der Quellen. Festgehalten wurde, daß die adäquate Methodologie aufgrund der Gegenstandsbestimmung nur die Transdisziplinarität sein kann (oder eine Interdisziplinarität, die sich zwar so nennt, aber im Prinzip transdisziplinär arbeitet).

Diese Methodologie ist es, die die komplexen Datenmengen, deren punktgenaue Zugänglichkeit über serverübergreifende Suchmaschinen wünscheswert wäre, systematisch verarbeiten läßt. Die bloße Bestimmung der Methodologie reicht aber nicht aus. Aus ihrer erwünschten Anwendung ergibt sich vielmehr auch eine Notwendigkeit der Transformation der Ausbildungen, der Wissenschaftsstrukturen, der Wissenschaftskommunikation, der Wissenschaftskooperationen.

Obwohl sich zeigt, daß die Aspekte vielfältig und unterschiedlich sind, lassen sich die Anforderungen doch kurz zusammenfassen: Die Notwendigkeit der Vorstellungsbildung bei heutigen gesellschaftlichen Strukturen muß erkannt und die entsprechenden Rahmenbedingungen dafür geschaffen werden.


Anmerkungen:
(1) 196 Milliarden Dollar in Europa, 320 in den USA. Angaben nach: Jakob Steurer: Was kommt auf den Teller? In: Die Presse, 29.8.1998.
(2) Vgl. zu kulturellen Konzepten: Cultural Policies in Europe. In: http://www.spoe/ri/kulturkonferenz/index.htm
(3) Robert Musil: Der Mann ohne Eigenschaften. Hamburg 1952, S.459ff.
(4) "Europäische Literatur- und Sprachwissenschaften", INST-Konferenz, Innsbruck, 1997. Vgl. Trans Nr. 1ff: http://www.inst.at/trans/2Nr/sektionsberichte.htm


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