Kulturwissenschaften und Europa
Cultural Collaboratory
Rainer Lotz: Übersetzung – Kulturwissenschaften – Europa
 
  
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Die Entwicklung europäischer Literatur und Kultur ist mit Richtung, Intensität, Verlaufsformen und Ergebnissen von Übersetzungsprozessen direkt verknüpft. Es liegt daher nahe, diese Vorgänge als einzelsprachliche und -kulturelle Grenzen überschreitendes Handeln zu betrachten, weshalb sie für transkulturelle Forschung einen paradigmatischen Wert besitzen. Ihre Besonderheit liegt in der Präsenz einer anderen Sprache und Kultur. Übersetzungen werden nämlich meist wie Originale in der Zielsprache rezipiert, auch wenn das Bewußtsein von ihrer Herkunft durch eine Reihe von Informationen im oder zum Text wachgehalten wird. Insofern Übersetzungen nicht nur als Dokumente über etwas in einer anderen Sprache und unter ihren Sprechern bzw. Rezipienten wirken, sind sie mehr als eine Erläuterung, ein Kommentar oder andere Formen eines additiven Nebeneinanders von Erzeugnissen aus verschiedenen Sprachen und Kulturen: Sie (re)inszenieren die fremdsprachigen Originale unter m.o.w. unterschiedlichen zielsprachlichen Bedingungen. In diesem Interpretations- und Umsetzungsprozeß kommt es nicht allein zu (den meist allzu kurzsichtig als Verluste beklagten) Veränderungen gegenüber dem fremdsprachigen Original, das dabei allerdings an semantischem Potential nicht nur verlieren, sondern auch gewinnen kann. Gleichzeitig gehen auch die Formen der übersetzenden Sprache und Kultur – die "Art des Meinens" (W. Benjamin) – nicht immer unverändert daraus hervor, sondern werden durch Übersetzungen gewandelt bzw. neu konstituiert.

Damit hängt eine Vorstellung vom Übersetzen zusammen, bei der ein ausgangssprachlicher Text nicht 'einfach' in der übersetzenden Sprache abgespiegelt oder verdoppelt wird. Vielmehr gilt es zu beobachten, wie die Übersetzung aus den Voraussetzungen (d.h. den Möglichkeiten, Mängeln, Konventionen, Erwartungen, u.a.m.) der übersetzenden Sprache, Literatur und Kultur heraus auf das fremdsprachige Original reagiert. Auf diesem Hintergrund erscheint das Übersetzen als Erprobung der Voraussetzungen und Verfahren, mithin also der Bereitschaft in der übersetzenden Sprache, sich auf andere Formen – und andere Formen in sich – einzulassen. Aufgabe einer Kritik von Übersetzungen wäre es demnach, sie hinsichtlich ihrer Perspektive(n) auf den Ausgangstext hin zu analysieren und dabei zu untersuchen, welche Fähigkeiten und Interessen der übersetzenden Sprache und Gesellschaft in ihr wirksam sind oder herausgefordert werden. Übersetzungen sind (wie originalsprachige Texte) nicht nur als Raum für die Entfaltung sprachlicher Formen und interpretatorischer Alternativen interessant. Sie lassen sich vielmehr – im Vergleich zum fremdsprachigen Original wie auch mit anderen Texten in der übersetzenden Sprache – als textgestützte Versuche der Selbst- und der Fremdrepräsentation und – interpretation untersuchen. Die Auswahl von Autoren und Texten reflektiert daher ebensowenig wie die Art der übersetzerischen Transformationen allein sprach- und formgeschichtliche, sondern auch politisch-gesellschaftliche Voraussetzungen.

Unter diesen Vorzeichen beschäftigt sich eine kulturwissenschaftlich sensibilisierte Übersetzungsanalyse nicht mit dem Austausch von Zeichen und Texten allein, sondern fragt nach den Bedingungen und Formen ihrer Existenz und Wirkung über sprachliche, räumliche, zeitliche und kulturelle Grenzen hinweg. Philologie und kontrastive Linguistik sind dabei zwar vorzügliche Disziplinen zur Analyse der Untersuchungsobjekte. Die Beschreibung stilistischer Merkmale und in zwei oder mehr Sprachen vorliegender Äquivalenzbedingungen ermöglicht es jedoch noch nicht, die Entscheidung für die in der Übersetzung jeweils gewählten Varianten zu erklären. Statt einer Beschränkung des Fragehorizonts auf ausschließlich philologische Aspekte bedarf es sowohl hinsichtlich der Frage, wie und warum zielsprachliche Repräsentation des fremdsprachigen Ausgangstextes die Rezipienten überzeugt(e), als auch bei der Diskussion und Beurteilung der dabei vorgenommenen Manipulationen, einer möglichst systematischen Beschreibung von Übersetzungen als Ausdruck einer zielkulturellen Haltung.

Neben Präferenzen bei der Auswahl von Einzelsprachen, Autoren, Titeln, Genres, dem Zeitpunkt von (gerade auch Mehrfach- bzw. Neu-)Übersetzungen u.a.m. ermöglichen Übersetzungsstrategien eine nähere Charakterisierung. Sie zeigen, welchen Interessen die im fremdsprachigen Text dokumentierte übersetzerische Rezeption folgt und welche Erwartungen nachweislich in sie eingegangen sind. An der Art und Weise der Repräsentation des fremdsprachigen Textes, (welche Äquivalenzbeziehungen werden dabei – warum/zu welchem Zweck – zu realisieren versucht; was wird z.B. als ‚niederrangiges' Merkmal im Zweifelsfall vernachlässigt; welche Ausschlußkriterien sind wirksam) ist erkenntlich, was aus der Sicht der übersetzenden Sprache, Literatur und Gesellschaft an einer anderen Literatur als bedeutsam und interessant erscheint.

Kulturstrategisch aufschlußreich ist auch die Kennzeichnung von "Fremdheit" gegenüber "Andersheit" in einer Übersetzung. Man kann Aspekte ausgangssprachlicher Texte in der Übersetzung 'fremd' setzen, d.h. sie können in signifikanter Weise als andersartig im Vergleich zu den eigenen etablierten Vorstellungen und Erfahrungen von Literatur und damit verknüpften Kommunikationsprozessen präsentiert werden. So kann z.B. versucht werden, dem Wissen oder dem Eindruck der Selbständigkeit und Unterschiedlichkeit im Vergleich zum Eigenen Raum und Recht zu verschaffen. Gleichzeitig folgt aus diesem Beharren auf Differenz eine Art Exterritorialität. In dem Maße, wie in Übersetzungen nicht in die eigenen (sprachlichen, literarischen, ideologischen, sozialen, materiellen) Voraussetzungen übertragen wird, erscheinen Elemente des fremden Originals als inkompatibel, nichtzugehörig und fallen als Identitätsträger nur ex negativo ins Gewicht.

Bei Übersetzungen zwischen europäischen Sprachen scheinen zum Ende des 20. Jahrhunderts in der Regel symmetrische Beziehungen wirksam zu sein: was in der einen Sprache und Literatur getan werden kann, sollte grundsätzlich in einer anderen auch möglich sein. Sie erscheinen daher alteritär, auch wenn man weiß, daß keineswegs in allen Punkten unter ihnen Übereinstimmungen zu finden sind. Nur der globale Siegeszug des Englischen sprengt die Vorstellung von der Gleichheit (west-)europäischer Sprachen und fällt aus diesem Schema offensichtlich heraus. Offensichtlich steht die Bereitschaft, aus einer anderen Sprache zu entlehnen bzw. diese vorzuziehen in einem direkten Zusammenhang mit deren Funktion und Ansehen als Medium des derzeitig gefragten Wissens und der dominanten Rollenbilder. Sehr scharf zeigen sich diese Gegensätze in postkolonialen Sprechergemeinschaften z.B. in Nordafrika oder in Südasien: Hier sind regionale Dialekte, Hochsprachen oder standardisierte Nationalsprachen und die Sprachen der ehemaligen europäischen Kolonialherren (französisch bzw. englisch) deutlich unterschiedene Kommunikationsmittel, die mit anderen Inhalten, Leistungen und insbesondere auch verschiedenen sozialen und kulturellen Orientierungen und Hierarchien verknüpft sind. Mit dem Wechsel der Sprachen hängen auch starke außersprachliche Veränderungen (der Situation, der (Rollen der) Partner und der Gegenstände) zusammen.

Rainer Lotz (Panaji/Indien)
 
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