Kulturwissenschaften und Europa
Cultural Collaboratory

Bojan-Ilija Schnabl:
Roma und europäische Integration
 
Vor geraumer Zeit wünschte der Wiener Verein Romano Centro für seine gleichnamige zweisprachige Zeitschrift einen Beitrag über Entwicklungsperspektiven der Roma, so wie sie sich mit Brüsseler EU-Background darstellen.(1) Romano Centro ist eine Zeitschrift von und für Roma. Es ist ein positives Zeichen, daß der europäische Integrationsdiskurs nun auch von Roma geführt wird, weil europäische Entwicklungsströme zumindest mittelbar auch einen großen Einfluß auf die alltägliche Lebenserfahrung der Roma haben.

Doch kann der spannendste intellektuelle Diskurs der Minderheit, so  fortschrittlich und integrativ er auch sein mag, nicht den Diskurs innerhalb und mit der "Mehrheit" ersetzen. Diese ist sich zudem vielfach des wichtigen gesamtgesellschaftlichen Beitrags ihrer Minderheiten nicht in angemessener Weise bewußt. Deshalb wird nun der vorliegende Artikel einer breiteren Öffentlichkeit zur Diskussion gestellt. Er wurde um einige Aspekte ergänzt, die insbesondere einen Mehrheitsbezug haben. So mag die neue Leserschaft einerseits die interne Diskussion der Minderheiten miterleben und gleichzeitig Anknüpfungspunkte zur eigenen Realität finden.

Gratwanderung zwischen Engagement und Wirklichkeit

Über europäische Entwicklungsperspektiven der Roma zu schreiben und nicht abgehoben zu wirken, ist eine wahre Gratwanderung, insbesondere angesichts der realen Lebensumstände vieler Roma am Rande der Gesellschaft in vielen Ländern Europas. Zudem verbessert es ad hoc nichts an der durch jahrhundertelange Unterdrückungs- und Entwürdigungsmechanismen herbeigeführten Situation.

Und doch ist das politische, wirtschaftliche und rechtliche Zusammenwachsen der europäischen Staaten in der Europäischen Union (EU) eine Realität mit einer außerordentlichen Tragweite, die uns alle betrifft. Dieses Zusammenwachsen berührt das wirtschaftliche und soziale Gefüge aller europäischen Staaten, in denen Roma leben - im Osten wie im Westen. Die sog. Integration verändert die rechtlichen Voraussetzungen und Möglichkeiten für die Wahrung von Partikular- oder "Minderheiten-"Interessen ebenso wie die strukturellen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für deren langfristige Entwicklung. Hinzu kommt, daß die Union von hinkünftig über 500 Millionen Einwohnern in über 20 oder 25 Staaten nicht dieselben Möglichkeiten hat, konkrete Probleme an der Basis politisch aufzuarbeiten, wie die Einzelstaaten. Ihre liberalistischen Wurzeln aus den frühen Jahren der Gemeinschaft erfordern es sogar, daß sich alle Interessensgruppen aktiv und in Selbstverantwortung für die Vertretung ihrer spezifischen Interessen einsetzen. Dies sind also viele Gründe, warum es nicht nur legitim sondern dringend notwendig ist, das die Roma selbst spezifische Entwicklungsperspektiven  in der Union und darüber hinaus entwickeln.

Kristallisationspunkt der Glaubwürdigkeit

In allen Mitgliedsstaaten der EU und in jenen, die ihr beitreten wollen, ist die Situation der Minderheiten und sozialen Randgruppen sowie insbesondere die der Integration der Roma dringend verbesserungswürdig. Und gerade die Verbesserung der realen Lebensumstände der Roma ist nach vielen Sonntagsreden zur Sozialunion ein Kristallisationspunkt der Glaubwürdigkeit der EU und ihrer Integrationspolitik.

Dabei bietet gerade die EU-Ebene neue Chancen für einen offeneren Dialog mit Minderheiten. Weil in der EU jeder irgendwo in der Minderheit ist, ist das Wirken ihrer Gremien hin zu Dialog und Integration orientiert. Und das obwohl z.B. gerade geopolitische Interessen und Traditionen der einzelnen Staaten ihr besonderes Gewicht und wirtschaftlich starke Lobbies im liberalistischen System der Interessensvertretung einen klaren "Wettbewerbsvorteil" haben.

Institutionelles Fair-play

Problematisch wird bisweilen insbesondere die im Zuge der Subsidiarität den staatlichen, regionalen oder lokalen Behörden zugeschriebene Kompetenz zur Durchführung von Politiken, die auf der EU-Ebene grundsätzlich beschlossen werden. Denn gerade für Minderheiten, die in ihren Regionen nur wenig staatliche Unterstützung genießen oder aber wenn sie nicht institutionell in Entscheidungsprozesse eingebunden sind - und das trifft auf Roma durchwegs zu -, stellt der Instanzenweg, das Einfordern von Durchführungsbestimmungen zur Rahmengesetzgebung und der Nutzung von rechtlichen Möglichkeiten eine schier unüberwindbare Hürde dar.

Einer der zentralen Politikbereiche, der die Roma betrifft, ist die Erweiterung der EU. Einerseits mag es zwar zu bedauern sein, daß gerade die für die sozialen Randgruppen so wichtige sozialen Grundrechte nicht als Beitrittskriterium gelten. Andererseits ist jedoch die Verbesserung der Lage der Roma in eben diesen mittel- und osteuropäischen Staaten, die zur EU beitreten wollen, im Rahmen des Minderheitenschutzes sehr wohl eines der Kopenhagener Beitrittskriterien.

Dieses wird seinerseits mittelfristig wahrscheinlich auch die jetzigen EU-Mitgliedsstaaten zu Anstrengungen in diesem Bereich bewegen. Der Rat erklärte noch im Juli-Plenum des Europäischen Parlaments am 15.7.1998, die Minderheitenförderung allgemein durch die bestehenden Programme durchführen zu wollen und daß er Fragen einer eventuellen rechtlichen Verankerung in den Grundsatzverträgen eher dem Europarat zu überlassen geneigt sei. Zudem wolle er selbst nur auf Anregung insbesondere der Europäischen Kommission im Rahmen ihres legislativen Initiativrechts tätig werden. Die Europäische Kommission verweist ihrerseits auf die Notwendigkeit eines globalen politischen Auftrags seitens des Rates der Staats- und Regierungschefs um überhaupt erst legislative Initiativen setzen zu können. Doch auch hier ist zu erwarten, daß, wie in vielen anderen Bereichen, die EU-Ebene strukturell zu einer gewissen Entkrampfung der Situation beitragen wird.

Roma - Österreichs Prestige

Den österreichischen Roma gebührt eigentlich schon heute allergrößte Anerkennung für die Verdienste um die Europäische Integration und für Österreichs Ansehen in Europa.

Der österreichische Europaabgeordnete Harald Ettl hatte in Vorbereitung der Position des Europäischen Parlaments (EP) zur Agenda 2000 und zur Erweiterung ein Hearing zur sozialen Dimension der Erweiterung der EU mit Vertretern der Roma aus Oberwart organisiert. Dabei waren die besonderen  Kenntnisse, die besonderen historischen Erfahrungen sowie die Sensibilitäten der Roma Grundlage für die daraufhin verfaßte und ungewöhnlich breite sowie humanistisch fundierte Stellungnahme des Europäischen Parlaments. Diese Breite erlaubte es wiederum, der Diskussion um die soziale Dimension eine neue Qualität zu verleihen und sie zum "Mainstream" werden zu lassen. Wovon vorher kaum jemand wirklich sprechen wollte, ist danach zum allgemeinen politischen Selbstverständnis geworden. Zudem konnten dank der somit erlangten politischen Autorität und Glaubwürdigkeit besonders strittige Punkte, die insbesondere Österreich ein Anliegen sind, wie die der sozial- und Arbeitsmarktpolitisch erforderlichen Übergangsregeln bei der EU-Erweiterung sowie der Förderung besonders betroffener Grenzregionen, politisch gefestigt werden. Bis zur Umsetzung aller sozialen Forderungen ist es natürlich noch ein langer, steiniger Weg, aber ein äußerst wichtiger Schritt ist damit getan und das eben auch dank der Roma.

Zwischen Mainstream und Identität

Beispiele solchen gesellschaftspolitisch wertvollen Wirkens für und von Roma gibt es auf EU-Ebene viele. Sie zeigen, daß Minderheiten einen über ihre Grenzen hinweg wertvollen Beitrag leisten und sich vieles, was sie legitimerweise sowie humanistisch begründet an besonderer Berücksichtigung von den Mehrheitsbevölkerungen beanspruchen, im wörtlichen Sinne sogar "auszahlt". Es ist eben nicht nur eine Binsenweisheit, daß es der Beitrag der Vielfalt an sich ist, der den Reichtum der Union ausmacht. Minderheiten-Interessen sind auch im demokratischen Interesse der Mehrheit. Der Respekt der Minderheiten ist nämlich auch ein Gradmesser für den demokratischen Umgang mit den "eigenen" vielfältigen gesellschaftlichen Schichten der gar nicht monolithischen "Mehrheiten". Die Diskussion um die Integrationsfähigkeit der Slowakei aus demokratiepolitischer Sicht bezeugt dies deutlich.

Die positiven Beispiele sollen aber auch nicht darüber hinweg täuschen, daß noch sehr viel zu tun bleibt. So werden wahrscheinlich langfristig auch die Überlebensmechanismen am Rande der Gesellschaft oder außerhalb derselben nicht mehr im selben Maße greifen. Emir Kusturica, der international anerkannte bosnisch-jugoslawische Filmemacher setzt in seinen Filmen (der neueste ist "Black Cat White Cat") den Roma Denkmäler der Menschlichkeit, die wie aus einer verflossenen Zeit der Poesie erscheinen. Die rechtspositivistische Realität der Union ist jedoch eine andere. Gerade deshalb setzen sich ja so viele für eine sozialere Europäische Union ein. Die individualistischen Grundrechte gewähren vieles, das sich jedoch auch Roma in diesem neuen Umfeld erst rechtswirksam erstreiten werden müssen. Wer z.B. kein Eigentum oder Grundbesitz hat oder je hatte oder aber dieses nicht nachzuweisen vermag, der kann sich in der Wirtschaftsunion auch nicht auf diese zentralen Grundrechte erfolgreich  berufen.

Es ist also auch wichtig, realistische Erwartungshaltungen gegenüber den Institutionen oder Organen der EU zu entwickeln. Am ehesten kann man wahrscheinlich grundlegende rechtliche Entwicklungsrichtlinien wie zum Beispiel die erwähnten EU-Beitrittskriterien erwarten oder aber eine Hilfe zur Selbsthilfe; eine Starthilfe, wie dies verschiedene Fortbildungs- oder Integrationsprogramme sein können. Es wäre im Lichte des europäischen Systems der Interessensvertretung strukturell falsch durch falsche Erwartungshaltungen in den Kreislauf unselbständiger Bittsteller zu  geraten, wie dies mit den vielen Empfängerstaaten der Entwicklungshilfe geschehen ist sowie es auch nicht angebracht wäre, Verhaltensmuster ehemaliger paternalistischer Systeme des Ostens zu perpetuieren.

Partnerschaft statt Tradition

Vieles ist für Roma eine Erschwernis, endlich als gleichberechtigte Partner in Europa angesehen zu werden, und der zu beschreitende Weg mag sehr lang erscheinen: Ethnopsychologische und soziologische Phänomene, wie mangelndes gesellschaftliches Prestige aufgrund jahrhundertelanger subtiler Unterdrückungs- und Ausgrenzungsmechanismen, die Verleugnung der kulturellen, sprachlichen oder historischen Identität durch die Machtstrukturen der Mehrheit oder die Selbstverleugnung der eigenen Identität als Mittel zum gesellschaftlichen Aufstieg, die geringe gesellschaftliche Relevanz ihrer Sprache oder die mangelnde Sensibilität oder Lernfähigkeit der Mehrheit für die Bedürfnisse der Roma. Kognitives Wissen und psychosoziale Verhaltensmuster und Prägungen von Minderheiten und von Mehrheiten haben einen schwierigen aber notwendigen Wandel vor sich und die Machtstrukturen der Mehrheiten müssen lernen, etwas mehr Vielfalt statt nur Einfalt in ihren Einflußbereichen zu akzeptieren. Und damit sind nur einige wenige Entwicklungsprozesse aufgezählt.

Institutionalisierter Dialog

Doch so schwierig all das auch sein mag, so erscheint es doch insbesondere für Roma wesentlich, mit den neuen Strukturen in der EU richtig zu kommunizieren, d.h. sich auf sie einzustellen. Wichtig ist also ein den Prinzipien des Lobbyismus entsprechendes selbstverantwortliches integratives Wirken und nicht diese quasi zu ignorieren. Das oben erwähnte Hearing in Oberwart war eben nur möglich, weil institutionalisierte Strukturen (Vereine) Gesprächspartner waren. Der steigende Grad gesellschaftsrelevanter Organisiertheit bei den Roma ist dabei ein positives Zeichen. Es ist dies wie eine ausgestreckte Hand zum Dialog, die von vielen positiven Kräften auf der EU-Ebene gerne angenommen wird. Denn neben der Eigeninitiative und Selbstverantwortung  ist eben die institutionalisierte Vertretung legitimer Partikularinteressen von zentraler Bedeutung für deren Effizienz. Und dies gilt nicht nur für die EU-Ebene.

Partikularität und Universalität

So bedeutende englischsprachige Schriftsteller wie T.S. Eliot oder James Joyce meinten, daß sich im Besonderen, in der Partikularität das Universelle widerspiegelt, daß es dessen Essenz ist. Das ist auch die demokratische Legitimierung des Erhalts der Individualität der Minderheiten in einer demokratische Ordnung, wo Minderheiten per Definitionem immer im demokratisch-demografischen Wettstreit unterlegen sind. Bei den Roma kommt noch die ganze tragische Geschichte der gesellschaftlichen Hackordnung hinzu. Europa, so meinen viele, braucht seine Vielfalt und seine Minderheiten. Und es ist auch die Aufgabe der EU diese zu erhalten, so wie es in den Grundsatzverträgen festgeschrieben ist. Es ist aber auch in der Verantwortung der einzelnen Teile der Vielfalt, diese Vielfalt zu erhalten und Europa aktiv und verantwortungsvoll mitzugestalten.

Der Diskurs der Integration der Roma in Europa ist also ein vielschichtiger und ganz unterschiedlich, je nach dem, ob er innerhalb der Roma oder aber in der Mehrheit geführt wird. Er ist jedoch in jedem Fall bereichernd, weil er sinnbildhaft für den europäischen Integrationsprozeß an sich steht. Wenn die Roma dabei etwas mehr an menschenwürdiger Integration bekommen, so gewinnt die Mehrheit an der Vermehrung der Ressourcen insbesondere durch den Abbau eigener geistiger Barrieren, Blockaden und Beschränkungen und durch solchermaßen freigewordene eigene, neue und zusätzliche produktive Dimensionen.

Bojan-Ilija Schnabl (Brüssel, Wien)

Anmerkung:
(1) Bojan-Ilija Schnabl: Roma - europäische Überlegungen. In: Romano Centro. Wien, Nr. 23/ 1998, S. 4-5. WWW: http://homepages.msn.com/ReportersAlley/bojan-ilija/BIS-Leseprobe2Roma.html. [zurück zum Text]

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