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Mit dem Begriff Postkolonialität wird zweierlei umschrieben: Zunächst die materielle und geistige Wirkung der Kolonisation und der sich fortsetzenden wirtschaftlichen und politischen Asymmetrie auf eine Reihe von Gesellschaften und Kulturen. Dann die unterschiedlichen Reaktionen darauf. Mit dem Begriff Postkolonialität wird also keineswegs die Idee der Überwindung der Kolonisation impliziert, sondern vielmehr die Tatsache verdeutlicht, daß sich Menschen und Gesellschaften in einem Prozeß befinden, in dem sie noch mit Folgen des klassischen Kolonialismus konfrontiert sind, Strategien entwickeln um mit ihnen fertig zu werden, aber immer noch einbezogen sind einer nationalen und internationalen diskursiven Praxis und Interaktion, die weiterhin hegemoniale Züge aufweisen. Der postkolniale Diskurs setzt sich mit dem einen oder anderen Aspekt dieser Gesamtkonstellation auseinander.
Von der postkolonialen Perspektive her betrachtet erfahren europäische Kulturwissenschaften selbstverständlich eine besondere Gewichtung und Orientierung. Die Erkenntnisinteressen und die methodischen Ansätze werden neu bestimmt. Das klassische Beispiel einer solchen postkolonialen Kulturwisseschaft ist wohl E. Saids Buch Orientalism. Darin geht es nur auf der ersten Ebene um den europäischen Diskurs über den Orient. Darin geht es eigentlich um den Prozeß der Konstruktion der westlichen Identität, das heißt um den Prozess der Konstitution des Westens als Westens.
In diesem grundlegenden Buch zeigt Said, daß in dem europäische Diskurse über den Orient die Konstruktion des Anderen keineswegs aus einem bösen Willen entspringt und kein Produkt eines imperialistischen Komplotts ist, um den Anderen niederzuhalten, sondern vielmehr der Ausdruck eines geopolitischen Bewußtseins oder das Zeichen einer asymmetrischen Herrschaftsbeziehung darstellt. Er ist alles andere als ein Netz von bewußt verbreiteten Lügen und Mythen, die man nur bloßzulegen und zu denunzieren braucht, um sie zum Verschwinden zu bringen, sondern Teil eines Gesamtdenkens und Handelns, das aus dem Bewußtsein der zentralen Rolle des Westens in der Welt resultiert. In den Texten über den Anderen drückt sich also ein geopolitisches Bewußtsein aus, und sie sind somit Indizien oder Spuren einer Herrschaftsbeziehung.
Diese Bilder, die vom Anderen gemacht werden, sind aber nicht nur Ausdruck einer Wirklicklichkeit, sondern wirken auch wirklichkeitsbildend. Said hat gezeigt, wie sich Europa durch die Konstruktion des Orients selbst konstruiert und konstituiert hat. Die Bilder, die von dem Anderen gemacht werden, sind keine Hirngespinste, die keinen Einfluß auf die Wirklichkeit haben. Durch die Vorstellung des Anderen setzt man sich zugleich Ziele, nämlich das klar als Selbst im Kontrast zum Anderen Definierte Wirklichkeit werden zu lassen. Das Selbst entsteht durch den Anderen nicht allein dadurch, daß man lernt, daß man ein Selbst hat, daß man das Wissen von sich sodurch erlangt, sondern dass man sich bemüht, anders zu sein als der Andere. Der Andere wird somit nicht nur zum Revelator des Selbst, sondern auch zum Motor dieses Selbst, das zum Programm erhoben wird.
Hier zeigt sich deutlich, was eine postkoloniale Kulturwissenschaft zu leisten vermag.Sie betrachtet die Begegnungen Europas mit dem Anderen als einen wichtigen Faktor bei der Konstituierung der europäischen Kultur und ermöglicht somit einen ganz neuen Zugang zur Geschichte dieser Kultur, die nicht mehr als ein naturwüchsiges oder gar rassisch bedingtes Produkt erscheint, sondern als ein geschichtliches Konstrukt, das bestimmte Funktionen hatte und immer noch hat. Auch ihre nationale Ausprägung verliert ihre absolute Bedeutung und erscheint als eine zwar besondere, aber letzten Endes nur relative Variation einer gesamteuropäischen Kultur.
Dass eine solche postkoloniale Perspektive vor allem in jenen Gesellschaften
entwickelt wird, deren Schicksal stark durch die asymmetrische Beziehung
zu Europa affiziert wird, ist nur normal. Europäische Kultuwissenschaften
erfüllen dort verschiedene ideologische Funktionen beim Versuch, die
Konsequenz der hegemonialen Situation zu verstehen und ihr entgegen zu
wirken:
Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Analyse von Diskursen im Allgemeinen.
Sie kann Traditionen sichtbar machen und dadurch jene Diskurse entmystifizieren,
die zwar die Wirkungen einer strukturell oder institutionell eingeschriebenen
Asymmetrie zu leugnen versuchen, jedoch selbst in ihnen fundiert
sind. Sie kann zeigen, welche Funktion der Rassismus in dieser Asymmetrie
spielt. Postkoloniale Kritiker weisen auf die zentrale Bedeutung des Begriffes
«Rasse» in der europäischen Konstruktion des Anderen hin.
Sie zeigen die Schwierigkeit des Umgangs mit diesem Begriff und empfehlen
seine Reformulierung und Umfunktionalisierung in der Kulturwissenschaft.
Aus ihm soll ein kritisches Regulativ gewonnen werden , das heißt
ein Konstrukt, das den objektiven Riss zwischen dem Begriff menschlicher
Geschichte und ihrer «rassischen» Wirklichkeit exponiert, gleichzeitig
aber diese Disjunktion innerhalb des Geschichtsprozesses verortet und somit
nicht zu einem anthropologischen Faktum erstarren läßt. Der
Begriff Rasse wird also als eine Konstruktion verwendet, die in einer historisch
klar zu bestimmenden diskursiven Praxis eine wichtige Rolle gespielt hat
und vielleicht immer noch spielt, aber nicht zu einer wichtigen Kategorie
der Erkenntnis erhoben werden soll.
Daraus ergibt sich eine dritte Aufgabe der postkolonialen europäischen
Kulturwisssenschaften. Sie ermöglicht das Aufspüren und Historisieren
von Mechanismen und Begriffen, die den europäischen Diskurs generieren
und strukturieren und dort als ewige und essentielle Faktoren der Kategorisierung
der Menschheit erscheinen. Dadurch soll ihrer Reanthropologisierung und
ihre Verwandlung in neue natürliche oder gar notwendige Gesetzmäßigkeiten
entgegengewirkt werden. Etienne Balibar stellt z.B. eine allgemeine Verlagerung
der Rassenproblematik von einer Theorie der «Rasse» auf eine
Theorie von «Rassenrelationen» innerhalb der Gesellschaft,
die nicht «Rassenzugehörigkeit», sondern rassistisches
Verhalten für natürlich erklärt. Er verweist auch auf die
Umfunktionalisierung der kulturellen Relativitätsthesen, die einmal
die Grundlage der Antirassismustheorie war und heute immer mehr als
Argument verwendet werden, um eine unüberbrückbare Differenz
und Feindschaft zwischen Rassen/Kulturen zu behaupten. Auf diese Weise
können alte Kategorien in einer zeitgemässeren Neuformulierung
weiterwirken oder eine neue ideologische Besetzung erfahren.
Genauso wie die Konstruktion des Anderen am Ende das Selbst mitbestimmt, genauso wirkt sie auch auf den Anderen, vor allem wenn die Gruppe, die den Diskurs konstruiert in einer hierarchischen Beziehung zum Anderen steht. Das Phänomen der sich selbst verwirklichenden Prophezeiung (self fulfilling prophecy) ist bekannt. Es besteht darin, daß das Bild, das man vom Anderen hat , zwar nicht der Wirklichkeit zu entsprechen braucht, wohl aber Wirklichkeit wird. Dies liegt daran, daß in der Dynamik der Interaktion der Andere dazu neigt, sich der Vorstellung, die seine Interaktionspartner vom ihm haben, anzupassen. Diese Neigung ist um so größer, je asymmetrischer die Beziehungen sind, und je mehr der Andere durch diese Anpassung Vorteile, Sicherheit oder sonstige Anerkennung erhofft. Daher kann behauptet werden, daß der Kolonisierte das Produkt des Kolonisators ist. Er ist es nicht nur, weil sein Status durch die Kolonisation bestimmt wird und nicht nur, weil sein Denken und sein Verhalten durch die Kultur des Kolonisators beeinflußt wird, sondern zunächst weil er das wird, was der Kolonisator als seine Identität konstruiert hat. Am Ende bestätigt er durch sein Verhalten das, was der Kolonisator von ihm denkt.
In dieser Hinsicht wird die Beschäftigung mit der europäischen
Kultur zur Abarbeitung der Konstruktion dessen, was man zum Teil geworden
ist, also zur Archäologie einiger Schichten des Selbst.
Diese sind natürlich nur einige mögliche Ziele und Aufgaben der europäischen Kulturwissenschaften in außereuropäischen Ländern. Sie verdeutlichen aber ihre Notwendigkeit. Auch wenn es einzelne Untersuchungen gibt, die wohl diesem Programm entsprechen, sind diese europäischen Kulturwissenschaften in Afrika nicht institutionalisiert. Hier richten sich Kulturwissenschaften leider immer noch nach der von europäischen Mächten hinterlassenen Fächereinteilungen. So hat man nur Nationalphilologien in fast allen Universitäten. Auch in den Abteilungen, die sich European Studies nennen, gibt es kaum gesamteuropäische Forschungen und Lehrprogramme. Die europäische Kulturwissenschaft ist also in Afrika - und nicht nur dort - eher eine Aufgabe, die in Angriff genommen werden sollte, als eine Realität. Diese Zeilen sollen also nicht als eine Bestandaufnahme gelesen werden, sondern als ein Programmentwurf
Ashcroft, Bill/Griffiths, Gareth/Tiffin, Helen: The Post-colonial
studies reader. London-New York 1995.
Balibar, Etienne: Is there a „neo-racism" in: ders./
Wallenstein, Immanuel: Race, Nation, Class. Ambiguous identities. London-New
York 1991. S.17-28.
Said, Edward: Orientalism. London 1978.
Raman, Shankar: The „Racial Turn". „Race", Postkolonialität,
Literaturwissenschaft in: Pechlivanos, Miltos / Rieger, Stefan u.a.: Einführung
in die Literaturwissenschaft. Stuttgart-Weimar 1995.
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