Internationales Memorandum zur Förderung der Kulturwissenschaften
Dieses Memorandum wurde am 16.9.1996 von der Generalversammlung des Institutes
zur Erforschung und Förderung österreichischer und internationaler
Literaturprozesse in
St. Petersburg beschlossen. Das Memorandum wurde am 8.10.1996 EU-Kommissarin
Cresson übergeben.
1. Ausgangslage
Im UNESCO-Dokument "Our Creative Diversity" wird unter Kultur "the total
and distinctive way of life of a people or society" verstanden. In diesem
Sinne definieren wir Kulturwissenschaften als jene wissenschaftlichen Disziplinen,
die sich mit Kultur in diesem weiten Sinne auseinandersetzen oder auseinandersetzen
sollten.
Insbesondere die grundlegenden Veränderungen in den letzten Jahrzehnten,
die im UNESCO-Dokument enthaltene Defintion von Kultur, die Beschreibung
gegenwärtiger Forschung werfen Fragen nach der Zukunft dieser unterschiedlichen
Kulturwissenschaften auf. Diskutiert werden ihre Forschungsgegenstände,
ihre Forschungsformen, ihre Lehren, ihre Öffentlichkeiten, die Berufsfelder
der Auszubildenden. Bisher wurde mit der Etablierung von "Massenuniversitäten"
auf die neuen Anforderungen und Wünsche unterschiedlicher Kreise reagiert.
Es entstanden neue Fächer. Ansätze von Interdisziplinarität
als Form der Möglichkeit von Erkenntnissummierung (aber durchaus noch
nicht von Transdiszipli-narität) wurde mehr propagiert, denn als wissenschaftliche
Praxis durchgesetzt. Für etliche gewann der Begriff Interkulturalität
an Bedeutung, ohne mit diesem Begriff aber bereits einen Weg zur Erfassung
und Analyse verstärkter und komplexer Internationa-lisierungen benennen
zu können. Die neuen Technologien werden bisher hauptsächlich
als besseres Schreibgerät oder "elektro-nischer Zettelkasten" genutzt,
wenn nicht gar als Zierde von Büros. Die Entstehung neuer Kommunikationsstrukturen,
die auch durch bisher nicht gekannte Quantitäten qualitativ neue An-forderungen
an die Forschung stellen, wurde benannt. Aber meistens wurden sie in Forschung
und Lehre nur ornamenthaft einbezogen. Die teilweise Veränderung der
Funktion der Kulturwissenschaften (zum Beispiel: weitgehende Entlassung
aus dem ideologischen Kampf zwischen Nationen oder gar Staatenverbänden)
führte noch nicht zu einer grundlegenden Aufwertung der Selbstbestimmung
im Zusammenhang mit wissenschaftlichen Arbeitsprogrammen. Die Veränderungen
der Berufsfelder der an Universitäten auszubildenden KulturwissenschafterInnen,
wozu auch neue Einrichtungen der Verwaltung, Sammlung, Dokumentierung,
Analyse, Ausbildung und Darstellung gehören, werden oft als Widerspruch
zur tradierten Form der Wissenschaftspraxis gesehen. Die überholten
Formen der Abgrenzung, wissenschaftsfremder Hierarchien und ihrer Machtaus-übung
tragen zu einer enormen Verlangsamung des Erkentnisprozesses bei.
2. Gesellschaftliche Reaktionen
Es ist daher nicht verwunderlich, daß die tatsächliche und mögliche
gesellschaftliche Rolle von Kulturwissenschaften international in den letzten
Jahren und Jahrzehnten divergent beurteilt wurde. In dieser Phase der Veränderungen
kommt es aufgrund der widersprüchlichen Entwicklungen und der Bestimmung
unterschiedlicher Ziele einerseits zu Kürzungen der Etats für
Kulturwissenschaften (aber auch für Kunst), andererseits zeigt ein
UNESCO-Dokument wie "Our Creative Diversity", daß Kunst, Kultur und
Kulturwissenschaften gerade in unserer heutigen Zeit eine zentrale Rolle
bei der Herausbildung und Entwicklung einer internationalen Gemeinschaft
spielen können und müssen.
3. Selbstbestimmte Veränderungen
Ihre neue gesellschaftliche Rolle müssen die Kulturwissen-schaften
unter Einbeziehung ihrer Divergenzen selbst formulieren. Notwendig ist
die Einbringung der vielen Einzelperspektiven, die Förderung des Verständnisses
für einzelne Kunstwerke, für spezielle Momente von Kulturprozessen.
Diese alten Formen müssen aber durch die Entwicklung von internationalen
Großforschungs-strukturen und Großdatenerfassungen ergänzt
werden. Benötigt werden internationale Foren, dynamische Forschungs-
und Datenstrukturen und offene Förderungsstrukturen in Selbstverwaltung.
Sie sind eine Voraussetzung, damit auch komplexe Großdatenfeldern
erfaßt und analysiert werden können. Sie sollen eine raschere
Gewinnung neuer Erkenntnisse ermöglichen und der Lehre neue Möglichkeiten
durch Einbringung von neuesten Forschungsergebnissen eröffnen. Die
Darstellungsformen in Ausbildung und Öffentlichkeit sollen mehr Bezug
zu heutigen Kommunikations- und Orientierungsstrukturen haben. Das bedeutet
auch eine Aufwertung der Entwicklung neuer Methoden sowie die Ausbildung
zur Auffindung von Informationen in sich ändernden und neu entstehenden
Systemen.
4. Forschungsansätze
In den letzten Jahrzehnten wurden vielfältige Ansätze entwickelt,
um ein breites wissenschaftliches Instrumentarium zu entfalten. Es soll
die Annäherungen an komplexe Forschungsgegen-stände sowie die
Ausweitung von Dokumentationsfeldern erlauben. Auch gab es eine Ausdifferenzierung
von Forschungsbereichen, die durch den Umfang des Materials und die Limitation
der alten Strukturen bedingt war. Die Herausbildung neuer Arbeitsbereiche
wurde auch durch neue gesellschaftliche Anforderungen wie die Entdeckung
von Kultur als wesentlichem Wirtschaftsfaktor ermöglicht. Dies bedeutet,
die qualitativ neue Erweiterung der Arbeitsbereiche im sich wandelnden
kulturellen Prozeß, sowie die Veränderung der Kommunikationsfelder.
Kanonisierte Strukturen werden immer wieder in Frage gestellt. Die komplexe
Konstituierung von Kunst- und Kulturprozessen kann unter Berücksichtigung
von Großdatenfeldern zum Gegenstand von Sammlungen, Aufbereitungen,
Analysen und Darstellungen werden. Hierfür sollten neueste Technologien
Berücksichtigung finden.
5. Forschungsorganisation
Um die genannten Vorhaben wirkungsvoll voranzutreiben, wurde unter anderem
das "Institut zur Erforschung und Förderung österreichischer
und internationaler Literaturprozesse" (Wien) gegründet. Es sieht
sich als ein internationales Forum für WissenschafterInnen, UniversitätslehrerInnen,
Mitglieder wissenschaftlicher Akademien, das als Plattform für neuartige
Sammlungs- und Dokumentationstätigkeit sowie neue und alte Forschungseinrichtungen
dienen soll.
6. Forschungsaufgaben
Die heutige Forschung und Lehre wird häufig von alten Hierarchien,
eng definierten Lehrstuhl- und Fachgrenzen sowie an einigen Orten von nationalistischen
Verwaltungsstrukturen bestimmt. Dadurch wird die Erforschung von "Internationalisierungen"
oft auf eine einzige Sprache, einen Machtbereich beschränkt. Darum
wäre die Aufarbeitung der Wissenschaftsgeschichte, die Entwicklung
von Wissenschaftskommunikation und Wissenschaftslogistik auf neuer Basis
von grundlegender Bedeutung.
Beispiele für diesbezügliche Projekte des Institutes sind:
6.1. Eine Biobibliographie der KulturwissenschafterInnen der Habsburgermonarchie:
Aufarbeitung einer durch nationalsozialistische Okkupation und stalinistische
Diktatur verschütteten und zerstörten Tradition, in der Lehrstühle
nicht nur als "Propagandainstitutionen" von "Nationalkulturen" etabliert
wurden).
6.2. Eine österreichische Literaturgeschichte auch als
Beispiel des Wandels eines Literaturprozesses, in dessen Verlauf verschiedene
Sprachen zu Trägerelementen literarischer Kommunikation wurden und
werden. Kommunikationsstrukturen wandeln sich grundlegend. Begriffe und
Grenzen ändern sich.
6.3. Projekte zum Verhältnis von Kulturwissenschaften und Informationssystemen.
Dies impliziert die Notwendigkeit der Sammlung, Aufbereitung und Bewahrung
von Kulturgütern in Bibliotheken, Archiven und Museen sowie die Fragen
ihrer Zugänglichkeit. Dabei geht es auch um die Sammlung und Aufbereitung,
die den Bedürfnissen der Forschung entspricht.
6.4. Kulturwissenschaftliche Europa- bzw. UNESCO-Projekte.
7. Wissenschaftspolitik
Universitäten, Akademien der Wissenschaften, neue Forschungs- und
Dokumentationseinrichtungen müssen finanzielle Möglichkeiten
für Ihren Aufbau, Ihre Umstrukturierung und ihre neuen Tätigkeiten
bekommen. Es gibt veränderte Forschungsgegenstände, Dokumentationsformen
sowie neue Möglichkeiten der Analyse und der wissenschaftlichen Darstellung.
Auf diesen Gebieten muß jene größtmögliche Effizienz
erzielt werden, die für das internationale Zusammenleben von grundlegender
Bedeutung ist. Dies erfordert nicht nur ein grundsätzliches Umdenken
in der Förderungspolitik, sondern auch eine Umstrukturierung von Forschungeinrichtungen
und der Darstellung ihrer Ergebnisse in der Öffentlichkeit. In diesen
Prozeß ist die Einbeziehung gesellschaftlicher Institutionen unabdingbar.
Berufsmöglichkeiten müssen dabei mitgedacht werden. Eine Erweiterung
des UNESCO-Budgets sowie eine Veränderung der Ansätze zur Förderung
von Kulturforschung in der EU sind notwendig. Ohne entsprechende Mittel,
die auch von den jeweiligen Ländern und Kommunen zur Verfügung
gestellt müssen, ist eine Entkulturalisierung mit ihren destruktiven
Folgen in allen gesellschaftlichen und zwischenstaatlichen Bereichen zu
befürchten.
8. Perspektiven
Die Unterzeichneten fordern daher die internationalen Organisationen, die
Regierungen, die Kommunalverwaltungen, die wissenschaftlichen Stiftungen
etc. auf, entsprechende Mittel zur Verfügung zu stellen, um den Kulturwissenschaften
die Möglichkeit zu geben, sich gemäß den neuen Anforderungen
umzustrukturieren und ihren gesellschaftlichen Aufgaben gerecht zu werden.
Webmeisterin: Andrea
Rosenauer
© Institut zur Erforschung und Förderung
österreichischer und internationaler Literaturprozesse (INST),
2000