Internationale Kulturwissenschaften
International Cultural Studies
Etudes culturelles internationales

Sektion II: Transformation alter wissenschaftlicher Institutionen

Section II:
Transformation of Old Scientific Institutions

Section II:
Transformation dans les anciennes institutions scientifiques


Alexandr W. Belobratow (St. Petersburg) [BIO]

Englisch 

Französisch 
Transformation des Faches: Zur Rolle und Bedeutung der Cultural Studies für literaturwissenschaftliche Institute in Rußland

Ein beträchtlicher gesellschaftlicher Wandel, den man in West und Ost erlebt und auf verschiedenste Weise darzustellen und zu erklären versucht, übt seine direkte Wirkung auf die Literaturwissenschaft als Fach aus, wobei die darauffolgenden bzw. parallel dazu laufenden Diskussionen bzw. entstehenden Transformationen einerseits auf die unumgängliche geschichtliche Permanenz der geisteswissenschaftlichen Entwicklungsprozesse und andererseits auf die immanente(n) Eigenschaften bzw. Eigenschaftslosigkeit der Wissenschaft von der Sprachkunst zurückzuführen sind. Die besonders in den letzten Jahren am heftigsten diskutierten Probleme, die auf eine (in der historischen Perspektive nicht die erste und eventuell auch nicht die letzte)Legitimationskrise der Literaturwisschenschaft hinweisen, betreffen dabei besonders stark die institutionelle Seite, d.h. Prinzipien, Strukturen und Organisationsmodelle der literaturwissenschaftlichen Ausbildung und Forschung, die die (soziale) Verwertbarkeit der erlernten Qualifikationen und Fähigkeiten garantieren sollen.

Man fragt, ob das Literaturstudium durch die Vermittlung grundlegender Sprachfertigkeiten ersetzt werden soll, deren Gebrauchswert sich am akademischen Markt verkaufen läßt. Man überlegt, ob "die Germanistik noch eine Philologie mit eigenem Kanon sein, sich in German Cultural Studies transformieren oder zu einem Zwerg der Comparative Literature werden wird"(Hartmut Böhme). Man befürchtet, daß eine "Literaturkritik, die fortgesetzt am eigenen Ast sägt und lieber die Geschäfte der Historiker, Soziologen, Politologen, Psychoanalytiker und Ökologen betreibt, anstatt literarische Texte zu analysieren, über kurz oder lang ihre Existenzgrundlage einbüßen wird" (Walter Hinderer). Die Hinwendung der Literaturwissenschaft zu den kunstwissenschaftlichen Praktiken und Diskursen läßt vermuten, daß literarische Texte nicht mehr als "privilegierter Gegenstand" gelten, sondern nur als Feld kultureller Objektivationen unter anderen behandelt werden müssen (J. Lehmann).

Im Rußland der 1990er Jahre scheint die breite methodologische Öffnung mit der babylonischen Sprach- und Methodenverwirrung, die institutionelle und wirtschaftliche Misere mit der außerordentlichen Erweiterung des Bickfeldes und beschleunigten Integrationsprozessen in die internationale "Science Community" verflochten zu sein. In diesem Kontext "einer unendlich verwobenen Fläche", wo "alles schon unerzählerisch geworden ist und nicht einem ‘Faden’ mehr folgt" (Musil), spielt der Begriff "Cultural Studies" (es wird im russischen kein schönes, aber ein präzises Wort: "Kulturologie" verwendet) eine besondere Rolle, weil dieser den Lehr- und Forschungsbereich bezeichnet, der auch eine unendlich verwobene Fläche, etwas "rhizomhaftes" darstellt.

Es sind 3 Problemschwerpunkte in der neuen Situation der russischen Literaturwissenschaft hervorzuheben. In erster Linie geht es um die Überwindung des flächendeckenden Monologismus der sowjetischen Literaturwissenschaft, die jeglichen Methodenpluralismus strikt negiert und im System "Schule-Universität-Literaturforschung/Literaturkritik" das "Überbau-Basis-Modell", die Widerspiegelungstheorie und den klassenethisch orientierten Fortschritts- und Objektivismusglaube kultiviert hat. Die kulturwissenschaftliche Perspektive scheint schon aus dem einfachen Grunde nützlich zu sein, weil die Mannigfaltigkeit und Komplexität diverser Kulturbilder vieles zur Bereicherung des in literarischen Texten auf unterschiedliche Weise fixierten und zu interpretierenden jeweiligen Zustandes der Welt und seiner Beobachter beibringt. Die (früher überdominante) sozialgeschichtliche Perspektive kann dadurch beibehalten, aber auch stärkstens relativiert werden, indem die Kunstgeschichte, Geschichte der Philosophie, der Naturwissenschaften, Psychologie, Musik-, Mentalitätsgeschichte usw. in das literaturwissenschaftliche Forschungsprogramm integriert werden.

In der Situation der Informationssintflut (es werden auf den trockenen und dürren Boden psychoanalytische, dekonstruktivistische, poststrukturalistische, feministische, multikulturalistische, systemtheoretische u.a.m. Ströme gegossen, in einer oftmals chaotischen Representationsform, manchmal in Übersetzungen, die keine, auch die sanfteste Prüfung bestehen könnten, bzw. in den Wiedergaben durch flotte und nicht immer wort- und sinngetreue Vermittler) läuft man zweitens Gefahr, aus dem alten in einen neuen Monologismus zu wechseln angesichts der drohenden Desorientiertheit und des Verlorenseins gegenüber dem postmodernistischen "anything goes". Auch hier scheinen die kulturwissenschaftlichen Fragestellungen eher beschwichtigend zu wirken und können als möglicher Übergang zu einem plurizentrischen Modell der literaturwissenschaftlichen Ausbildung und Forschung dienen.

Zum dritten scheint die der Kulturologie immanente "Mehrsprachigkeit" eine gute Anspornung zu sein, um die absolute Konzentration jeder (hier: der russischen) Nationalphilologie auf einer Sprache der Kultur durch die polyglotten Bemühungen abzuschaffen und interdisziplinäre und interkulturelle Lern- und Untersuchungsfelder zu entdecken. Mit Robert Musil "ist (es)ein Grundzug der Kultur, daß der Mensch dem außerhalb seines eigenen Kreises lebenden Menschen aufs tiefste mißtraut [...] Schließlich besteht ja das Ding nur durch seine Grenzen und damit durch einen gewissermaßen feindseligen Akt gegen seine Umgebung". Das fach- und kulturübergreifende Denken und Lernen in der Literaturwissenschaft kann die Grenzen durchsichtig machen und die "Hybridität" der Kulturen aufdecken, die in einem permanenten Systemzusammenhang stehen und keine völlig isolierten Phänomene darstellen.

Die dabei oftmals prophezeite Dilletantismusgefahr kann durch die Rückbesinnung auf das interkulturelle und kulturwissenschaftliche Potential aus den Anfängen der russischen Literaturwissenschaft und die konsequente Orientierung auf das literarische Werk als Ausgangspunkt für die Forschung und Lehre vermieden werden.

 



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Sektion II: Transformation alter wissenschaftlicher Institutionen

Section II:
Transformation of Old Scientific Institutions

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