Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. |
März 2010 |
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Sektion 2.5. |
Übersetzung und Kulturtransfer SektionsleiterInnen | Section Chairs: Aleya Khattab (Universität Kairo) und Ernest W. B. Hess-Lüttich (Universität Bern) |
Transfer und Rücktransfer
Überlegungen zu Terézia Moras Erzählband Seltsame Materie in Deutschland
und dessen ungarischen Übersetzung Különös anyag
René Kegelmann (Eger / Ungarn) [BIO]
Email: kegelmannrene@gmx.net
1. Einführung
In diesem Beitrag steht eine Autorin im Mittelpunkt, deren Rezeption in Deutschland und in Ungarn die Komplexität der Übertragung von literarischen Texten aus einem in einen anderen Kulturkreis unter einem bestimmten Aspekt zu beleuchten vermag. Vor allem Terézia Moras früher Erzählband Seltsame Materie(1) (1999), der 2001 ins Ungarische übersetzt bzw. rückübertragen wurde(2), spiegelt eine sehr unterschiedlich verlaufende Wahrnehmung der Texte in Deutschland und in Ungarn und das betrachtete Problem eines mehrfachen Kulturtransfers. Die Literatursprache der zweisprachigen Autorin ist Deutsch, gleichwohl sie vor ihrer Ausreise in die BRD bis 1990 in Ungarn lebte. Mora wurde 1971 in Sopron geboren und wuchs in dem kleinen Dorf Petöháza nahe der ungarisch-österreichischen Grenze auf, studierte später Hungarologie und Filmwissenschaft in Berlin und absolvierte ein Drehbuchstudium an der Deutschen Film- und Fernsehakademie.
Dieser Aufsatz versucht insbesondere mit Bezug auf den frühen Erzählband Moras die Bedeutung einer „kulturüberschreitenden Rezeptio[n] (cross cultural reading)“(3) bzw spezifischer die „kulturdifferenten Blickwinkel“(4) in der Rezeption genauer zu betrachten.
2. Terézia Moras „Seltsame Materie“ (1999) bzw. „Különös anyag“ (2001)
Mora, die bereits vor Erscheinen ihres ersten Erzählbandes in Deutschland mit einigen Erzählungen - wie Durst (Open-Mike-Literaturpreis) und Der Fall Ophelia (Ingeborg Bachmann-Preis) wichtige literarische Auszeichnungen erhalten hatte und bereits damals als eine der großen Hoffnungen der jüngeren deutschsprachigen Literatur gehandelt wurde, gelang mit dem Erzählband Seltsame Materie (1999) der Durchbruch, der die weitere Rezeption stark mitsteuerte. Mittlerweile – spätestens nach Erscheinen ihres von der deutschen Literaturkritik einhellig mit Begeisterung aufgenommenen Romans Alles(5) - gehört sie in die erste Reihe deutschsprachiger Gegenwartsliteratur.
Mora hat sich auch als Übersetzerin aus dem Ungarischen einen Namen gemacht: neben Péter Eszterházys Harmonia Caelestis (Berlin Verlag 2001) hat sie u.a. István Örkénys Minutennovellen (Suhrkamp 2002), Péter Zilahys Die letzte Fenstergiraffe (Eichhorn 2004) und Lajos Parti Nagys Meines Helden Platz (Luchterhand 2005) in die deutsche Sprache übertragen, kann also auch als wichtige Kulturmittlerin zwischen dem ungarischen und dem deutschen Kulturraum gelten. Neben der Arbeit als Autorin und Übersetzerin schreibt Mora Drehbücher (u.a. „Die Wege des Wassers in Erzincan“), Hörspiele (u.a. Miss Jane Ruby, 2006) und Theaterstücke (u.a. So was in der Art, 2003).
Die zehn Erzählungen in Seltsame Materie (von denen nur neun ins Ungarische rückübersetzt wurden(6)), sind im ungarisch-österreichischen Grenzgebiet, weitab vom „zeitgenössischen Tagesgeschehen“(7) angesiedelt und handeln zumeist von aus verschiedensten Gründen (deutsch, zu reich, geschieden, nicht christlich etc. – die Liste der Stereotypen ist lang) zu Außenseitern (als Fremde oder als Andere(8)) stigmatisierten Ich-Erzählern (insgesamt acht weibliche und zwei männliche Ich-Erzähler), die sich zugleich auch selbst fremd ihrer Umgebung gegenüber fühlen und deren Bestreben dahin geht, die als zu eng und als einschnürend empfundenen Grenzen ihrer Umgebung zu überwinden. „Eine Kneipe. Ein Kirchturm. Eine Zuckerfabrik. Ein Schwimmbad. Ein Dorf“ (SM 114), so etwa sieht die Dorfwelt bei Terézia Mora aus. In vielen Texten ist auch von Gewalt, Alkoholismus und Inzest die Rede. Es wird eine Welt beschrieben, die nicht nur provinziell (im negativsten Sinne) ist, sondern auch kaum Aussichten auf ein Entrinnen bietet. Das Geschehen in den Erzählungen ist zumeist vor der politischen Wende angesiedelt. Man kann durchaus behaupten, dass in der Bearbeitung des „ungarischen Themas“ in deutscher Sprache bereits ein erster Transfer stattfindet.
3. Die Rezeption in Deutschland und Ungarn
Welche Bilder entstehen in der Literaturkritik und in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung in Deutschland und in Ungarn über die Erzählungen von Terézia Mora? Welche Rolle spielt in diesem Prozess des Transfers die Übersetzung? Kann man von einem gelungenen Transfer sprechen? Mit Transfer ist hier nicht nur die Übersetzung gemeint, sondern v.a. auch die Aufnahme innerhalb des literarischen Lebens einer Gesellschaft.
Die grundsätzlichen Unterschiede springen bei der Lektüre der Rezensionen in beiden Ländern schnell ins Auge: Während in der deutschen Literaturkritik und -wissenschaft das Erzählverfahren von Terézia Mora einhellig als ästhetisch innovativ und sprachlich vielschichtig eingeschätzt wurde, wurden die Texte (Különös anyag in der Übersetzung von Erzsébet Rácz) trotz durchaus anerkennender Bewertungen der literarischen Technik der Autorin von der ungarischen Kritik tendenziell als monoton, als sprachlich wenig neuartig und die Bilder und Metaphern als mehr oder weniger misslungen bezeichnet. Während die deutsche Rezeption schon 1997 (mit der Erzählung „Durst“ gewinnt Mora den Open-Mike-Literaturpreis) einsetzt und mit Seltsame Materie gewissermaßen bereits einen Höhepunkt erreicht, ist die Autorin in Ungarn bis zur Übersetzung des Bandes 2001 gänzlich unbekannt. Zwar erscheinen dort einige kürzere Artikel anlässlich der Frankfurter Buchmesse 1999, auf der Ungarn Schwerpunktland ist. Dabei ist das merkwürdige Phänomen zu beobachten, dass Terézia Mora (und auch andere Autorinnen) als Repräsentantinnen ungarischer Literatur in Deutschland vorgestellt werden, aber im „eigenen“ Land vollkommen unbekannt sind. Endre Kukorelly hebt diesen Aspekt in einem Beitrag in der Zeitschrift „Élet és irodalom“(9) hervor. Er nimmt beschämt zur Kenntnis, dass deutschsprachige Autorinnen ungarischer Herkunft wie Ilma Rakusa, Zsuzsanna Gahse, Christine Viragh und Terézia Mora in Ungarn so gut wie unbekannt sind und meint, dass sich darin ein Vorwendedenken manifestiere, so als seien die Grenzen weiterhin geschlossen. Er macht in der Ignoranz gegenüber in Deutschland oder westlichen Ländern lebender Literatur ungarischer Herkunft eine herablassende, sogar diskriminierende Haltung aus, deren Gründe darin liegen mögen, dass ihre Literatur als reine Widerspiegelung der Wirklichkeit gelesen würde, d.h. im Falle Moras als negative Darstellung der ungarischen Lebensrealität (und damit gewissermaßen als Tabubruch). Auch Lászlo Seres(10) hebt in einer frühen Auseinandersetzung mit Terézia Mora hervor, dass die innerhalb des deutschen Kulturraums (und v.a. auch in den wichtigen deutschen Feuilletons präsente) vielfach mit Preisen ausgezeichnete Autorin im eigenen Land gänzlich unbekannt sei.
In Deutschland hingegen wird Seltsame Materie nicht nur in allen großen Feuilletons besprochen, sondern fast einhellig positiv gefeiert. Allerdings fällt bei der Durchsicht der Rezensionen auch eine verengte Sicht auf, denn es werden immer wieder einige wenige Aspekte hervorgehoben. Die Erzählungen, so eine exemplarische Linie in den Besprechungen, „atmen allesamt die stickige Luft von Unglück und Freudlosigkeit, von Verhältnissen, deren Eintönigkeit so groß ist, dass sie abstumpft bis zur Leblosigkeit, von einer Welt, deren Perspektiven sich in Armut, Gewalt und Alkohol erschöpfen.“(11) Dass die Erzählungen ein düsteres Stimmungsbild einer ungarischen Grenzwelt der Vorwendezeit geben, darin sind sich die deutschen Rezensenten einig.
Betont wird immer wieder der Konflikt zwischen Individuum und Kollektiv (häufig anhand der Erzählung Der Fall Ophelia, mit der Mora den Ingeborg-Bachmann-Preis 1999 gewann), das als „erbarmungslose Welt“, als „rohe Archaik“, als „dunkles Reich des Elementaren“, in „einer von patriarchaler Macht strotzenden Welt“(12) geschildert wird. Dem Individuum bleibt nichts anderes als der Ausbruchs- oder Fluchtversuch in den Westen. Desweiteren wird v.a. der „Prozeß der Stigmatisierung zum Anderen in einer auf Konformität beharrenden Welt“(13) hervorgehoben. Der traurige, hoffnungslose Ton wird betont.(14)
Immer wieder wird auch – so ein weiterer wichtiger Aspekt - die Bildhaftigkeit der Sprache von Terézia Mora erwähnt(15), die Knappheit und Präzision der Sprache, die Schnitttechnik(16).
Es liegt nahe, dass die Texte von Terézia Mora in Deutschland u.a. in die Tradition einer Herta Müller oder der ebenfalls aus Ungarn stammenden Agóta Kristof (Das große Heft) eingereiht werden, ohne dass jedoch bislang eine vertiefte Studie zu einer solchen Traditionslinie vorgelegt worden wäre.
Wichtig zu sehen ist, dass die deutsche Rezeption die Erzählungen stark in Verbindung mit autobiographischen Aspekten bringt. Die Texte werden als Widerspiegelung der Kindheit Moras und einer ungarisch-österreichischen Grenzregion gelesen(17). Zu dieser verkürzten Einordnung allerdings trägt Mora selbst nicht unwesentlich bei, wenn sie mehrfach auf eben diese Verbindung hinweist: „Ich habe mich gefragt, was macht mich aus, wovon will ich erzählen? Und das ist nun mal meine seltsame Kindheit.’“(18) Eben diese autobiographische Parallelisierung ist es, die immer wieder (übrigens auch in der ungarischen Rezeption) die Frage nach der Zuordnung der Autorin aufwirft. Einerseits wird sie als in Deutschland lebende Ungarin(19) oder als gebürtige Ungarin aus Berlin(20) oder gar als junge ungarische Autorin(21) (seltener als Berlinerin(22)) vorgestellt, andererseits auch in den Kontext der Migrantenliteratur eingereiht (auch sichtbar an der Verleihung des Adelbert-von-Chamisso-Förderpreises für Autoren nichtdeutscher Muttersprache im Jahre 2000). Terézia Mora wehrt sich später zunehmend gegen solchermaßen gestaltete Vereinnahmungsversuche und beantwortet die Zuordnungsfrage nun eher folgendermaßen: „Ja, dieses blöde Etikett: Die Osteuropäerin. Das Dorf, in dem ich geboren wurde, liegt 70 Kilometer von Wien entfernt. Ich schreibe in deutscher Sprache und betrachte mich als Teil der deutschen Literatur.“(23)
In der ungarischen Rezeption, die 1999 durch das vorher beschriebene Phänomen zögerlich in Gang kommt, aber erst 2001 wirklich beginnt (auch dann einerseits nur zögerlich, andererseits auf anspruchsvollem Niveau, in Literaturzeitschriften und von Schriftstellern bestimmt), verläuft die Frage der Zuordnung vielfach differenzierter und es wird genauer auf die geografischen Details in den Texten eingegangen. Insbesondere ist die Rezeption stärker an der zweisprachigen Struktur der Texte interessiert und bringt dementsprechend zahlreiche Beispiele aus der Übersetzung ins Ungarische. Bei Erzsébet Szabó z.B. ist die Rede von zwei Kulturen bzw. zwei Identitäten, die sich im Werk Moras spiegeln würden.(24) László Márton betont, dass die Texte nicht unabhängig von der ungarischen Literaturgeschichte zu sehen sind.(25) Kulturspezifisch erkennt er auch einige konkrete Orte in Westungarn (z.B. Fertöd tó), Volkslieder und Schlager der 60er und 70er Jahre in den Texten wieder, auch wenn Mora bestrebt sei, keine ganz konkreten Anhaltspunkte zu liefern. Interessant ist auch, dass die Region, die Mora zeichnet (also um Sopron, Westungarn) im allgemeinen Bewusstsein innerhalb Ungarns eher als die am weitesten entwickelte Region empfunden wird – bei Mora ist sie zerstört, ohne Hoffnung. Dass Terézia Mora also ein ganz anderes Bild zeichnet, darin könnte ein Tabubruch liegen, der wiederum die Rezeption in negativer Hinsicht stark beeinflusst und dadurch einen gelungenen Transfer verhindert.
Anna Gács(26) geht auf die mögliche Zweisprachigkeit Moras ein, arbeitet eine Reihe von Charakterisierungen der Texte heraus (z.B., dass Verdichtungen und Auslassungen charakteristisch seien, dass eine stickige, enge Atmosphäre im Mittelpunkt stehe und weniger eine Geschichte.) Ausgehend von der Frage nach der Zweisprachigkeit kommt sie zu dem Ergebnis, dass die Erzählungen deshalb eine Enttäuschung seien, weil sie reduziert seien (Motive, Themen wiederholen sich) und dadurch nach der dritten Geschichte langweilig und monoton würden. Eine ausschließlich negative Sicht der Dinge wird bemängelt und bestimmt einen größeren Teil der ungarischen Rezeption. Kritisiert wird auch das sich angeblich stellenweise auf Grundstufe befindliche Sprachniveau. Die Texte würden teilweise wie eine Parodie wirken, die Armut würde zu einer Elendsromantik. Allerdings kommt auch Gács zu dem Befund, dass eventuell die Übersetzung die Ursache für diesen Eindruck sein könnte. Eigentlich sei in der ungarischen Übersetzung nämlich nur eine Sprache (die ungarische) zu finden und dadurch die Wirkung, die die Texte durch die Zweikulturalität im Deutschen entfalten können, einer wesentlichen Ebene beraubt.
Noémi Kiss(27) versucht, die Autorin in zwei Traditionslinien zu stellen, eine ungarische und eine deutsche: Zsigmond Móricz, Margit Kaffka etc. in der ungarischen Literatur, Judith Hermann(28), Jenny Erpenbeck etc. in der deutschen Literatur). Klára Ágnes Papp(29) anerkennt zwar die professionelle Technik, die Mora in den Erzählungen verwendet, kritisiert aber auch einen Punkt, der mehrfach in der ungarischen Rezeption auftaucht, nämlich, dass die Erzählungen sich wiederholten, d.h. die Kenntnis von einer Erzählung genüge, um alle zu kennen. Monotonie und Wiederholung ist ein häufig gemachter Vorwurf in der ungarischen Rezeption. Auch beklagt sie die Selbstbezüglichkeit der Protagonisten, zulasten einer nicht vorhandenen äußeren Beschreibung.
Innerhalb der ungarischen Rezeption hat sich Erszébet Szabó mit der Übertragung des Textes ins Ungarische am intensivsten auseinander gesetzt. Sie betont zu Recht, dass in den Texten immer zwei Referenzgebiete (eines dem Leser bekannte und eines ihm unbekannte) enthalten seien. Im Deutschen funktioniert dieses Prinzip tendenziell positiv, im Ungarischen hingegen eher negativ. So gibt es im deutschen Text eine Reihe von aus dem Ungarischen wortwörtlich übersetzten Schlagern und Volksliedern (so ist z.B. der Titel des Liedes „Braut und Bräutigam, wie schön sind sie beide“ in Seltsame Materie die wortwörtliche Übersetzung des bekannten ungarischen Schlagers „Menyaszony, völegény, de szép mind a kettö“, SM 152), die vom deutschen Leser nicht erkannt und eher ein Gefühl des Exotischen erzeugen, in der ungarischen Rückübertragung aber sofort konkrete Assoziationen freisetzen. Diese allerdings können dadurch nicht mehr fremd wirken, sondern im Gegenteil eher abgenutzt.
Auch der Titel der Erzählung „Buffet“ erzeugt im Deutschen eher eine unbestimmte Wirkung, setzt nicht so viele Assoziationen frei wie in der ungarischen Rückübertragung „Büfé“. Im Ungarischen ist „Büfé“ jedem vertraut, weil sich Büfés an jeder Ecke finden und in der ungarischen Kultur eine große Bedeutung spielen. Sie gibt es überall: an der Straßenbahnhaltestelle, an der Universität, in der Stadt, auf dem Land, im Nationalpark etc., eine Mischung aus Café, Kiosk und Laden, wo man von Süßigkeiten über Kaffee bis hin zu Sandwiches alles bekommen kann, und sich zumeist mit den dort arbeitenden Personen auch Geschichten verbinden. Zusammen mit den negativen Ereignissen in der Erzählung (ein Mädchen, das in einem Nationalpark in einem „Büfé“ arbeitet, das von den dort trinkenden Männern auch sexuell belästigt wird, die merkwürdigen, undurchschaubaren Familienverhältnisse und der Zustand des Parks als - durch starke Regenfälle - einziges Schlammfeld) entsteht beim ungarischen Leser möglicherweise eher das Gefühl einer Diskreditierung eines wichtigen Kulturgutes.
Neben solchen Beispielen gibt es umgekehrt auch einige Germanismen, die in der Rückübertragung ins Ungarische keine Referenz entfalten können. So wird beispielsweise das Wort „Hackordnung“ (SM, 156) mit „rangsór“ übersetzt, was ja die militärische Konnotation in der deutschen Sprache kaum zu spiegeln vermag.(30)
Schluss
Bei der vorgestellten Kulturgrenzen überschreitender Rezeption des Erzählbandes von Terézia Mora handelt es sich um einen besonderen Fall eines Kulturtransfers. Eine Autorin ungarischer Herkunft steigt in Deutschland in die erste Reihe der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur auf, hat aber in Ungarn ausgesprochen wenig Erfolg. Die Gründe dafür sind vielfältiger Art. Ein wichtiger Grund liegt sicherlich in der kulturspezifisch unterschiedlichen Bewertung von literarischen Aspekten wie Erzählverfahren oder Sprachbehandlung. Während in der deutschen Rezeption das Erzählverfahren Moras als innovativ und ihre Sprache als poetisch verdichtet eindeutig positiv hervorgehoben werden, bewertet die ungarische Rezeption gerade diese Aspekte negativ und betont Monotonie und sprachliche Unebenheiten. Darüber hinaus lassen sich aber in den beiden Rezeptionen einige Spezifika feststellen, die jeweils andere Elemente der Texte in den Blick nehmen und insofern mögliche Teilinterpretationen darstellen. In der deutschen Rezeption scheint ein besonderer Fokus auf dem Bild Moras von Mittelosteuropa zu liegen, „wie man es sich im Westen nicht besser vorstellen konnte“(31), d.h. es lässt sich in dieser Hinsicht auch eine gewisse Klischeehaftigkeit konstatieren. Desweiteren wird immer wieder der existenzielle Konflikt zwischen Individuum und archaischer Gesellschaft und der Bezug zur Biografie Moras hervorgehoben. Der Gewinn der ungarischen Rezeption liegt hingegen eher in der differenzierteren Aufarbeitung der zweisprachigen Struktur und der zahlreichen kulturspezifischen Elemente in den Texten, die in der deutschen Rezeption überhaupt nicht wahrgenommen werden.
Es wurde auch angedeutet, dass möglicherweise die Übersetzung zumindest einen Anteil an dem kaum gelungenen Transfer in den ungarischen Kulturraum haben könnte, weil sie tendenziell auf eine Ebene reduziert ist. Viele deutsche Wörter werden in ihren Nuancen kaum erfasst, was sich auf die Wirkung des ungarischen Textes negativ auswirkt. Denn zusammen genommen mit den Wörtern, die in der deutschen Fassung aus dem Ungarischen übersetzt wurden und in der ungarischen Rückübersetzung an Fremdheit verlieren, ergibt sich nun ein deutlich weniger ansprechender Text.
Sehr interessant in beiden Rezeptionen ist der Versuch, die Autorin in Traditionen einzuordnen. Durch die Verleihung des Adelbert-von-Chamisso-Förderpreises an Mora gibt es in Deutschland ein klares Signal, die Autorin innerhalb der Migrantenliteratur wahrzunehmen. Darüber hinaus wird sie aber auch ansatzweise in die jüngere deutschsprachige Gegenwartsliteratur (Erpenbeck, Hermann), in die ungarische Literatur (Kaffka, Móricz) und in die deutschsprachige Literatur Mittelosteuropas (Herta Müller, Kristof) eingereiht. Vielleicht ist aus diesen heterogen Zuordnungsversuchen heraus auch die Haltung Moras zu verstehen, wenn sie sich einerseits der deutschen Literatur zurechnet, andererseits aber auch die spezifischen Bezüge zu ihrem Herkunftsraum immer wieder betont. Gerade in der Frage der Traditionslinien zeigt sich bei Mora meines Erachtens das in den Texten angelegte interkulturelle Potenzial, das von einer monokulturell orientierten Rezeption kaum erfasst werden kann. Gemeinsame Studien von Forschern aus beiden Kulturkreisen wären daher sehr wünschenswert und könnten sicherlich neue Türen im Textverständnis öffnen.
Anmerkungen:
2.5. Übersetzung und Kulturtransfer
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Webmeister: Gerald Mach last change: 2010-03-22