Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | März 2010 | |
Sektion 3.2. | Transcontinental Transfer of Literature and Arts to Transform Traditional Societies Sektionsleiter | Section Chair: Hsia Adrian (McGill University, Canada) |
„Diese sehr ernsten Scherze” –
›Chorus mysticus‹ (Faust) – buddhistisch gelesen
Chon Young-Ae (Seoul National University, Korea) [BIO]
Email: chonya@snu.ac.kr
Abstract:
›Chorus mysticus‹, the final lines of Faust II, are considered under the perspective of Buddhistic canons: Focussing on the negative lexic and the dynamic effects of the short passage, links to the dominant negative lexic of Weisheitensutra und Diamantensutra are presented.
Then examining ›Chorus mysticus‹ verse by verse and in connection with the drama’s whole, the concept and some characteristics of Faust are discussed, pointing out its allegory and parabolic character. Parallels to many parables and allegories in the Lotussutra are explained.
Finally, proposing an interpretation of the ›Chorus mysticus‹, an important aspect of the Faust drama can be emphasized even while demonstrating some core ideas of Buddhism, especially of Mahayana Buddhism, the long way round – via Faust.
Alles Vergängliche
Ist nur ein Gleichnis;
Das Unzulängliche
Hier wird’s Ereignis;
Das Unbeschreibliche,
Hier ist’s getan;
Das Ewig-Weibliche
Zieht uns hinan.모든 무상한 것은
한낱 비유일 뿐.
미치지 못 하던 것
여기서 이루어 지네
형용할 수 없는 것
여기서 행하여 졌네
영원히 여성적인 것
우리를 이끌어올리네
Dieser kurze, hoch mystische Text fordert uns heraus. –Zu einem eigenen Interpretationsversuch, selbst angesichts der unzähligen bestehenden. Hier wird also noch ein Schritt getan, vielleicht kein neuer, aber ein gewagter fürs eigene Verständnis: Eine Lesart fürs Verstehen des Buddhismus zuhause wird auf dem weiten Umweg von Faust versucht.
Nach dem Prüfen der achtzehn koreanischen Übersetzungen(1), fühlte man sich doch noch dazu gelockt, sich ein bißchen mehr um die Wiedergabe der dem Original entsprechenden Knappheit der Sprache und auch des Reims selber zu bemühen. Deshalb kam eine weitere Kürzungsmöglichkeit des Doppelverses „Alles Vergängliche/ Ist nur ein Gleichnis모든 무상한 것은/ 한낱 비유일 뿐“ in Betracht; es ging dabei um ein einheimisches Wort, das aber gravierende Vermehrung der Implikationen bringen kann, das sich deshalb nicht ohne weiteres aufnehmen läßt:
제행무상,
한낱 비유A n y t y a,
Nur ein Gleichnis
Anytya [= ursprünglich, „das Nicht-Wahre”] stammt aus dem Wortschatz des Sanskrit, ist aber auch einer der Kernbegriffe des Buddhismus. Der Terminus ist im Verlauf der letzten 1500 Jahre in Korea dermaßen ansässig geworden, daß sich daraus ein einheimisches Wort (제행무상) gebildet hat, welches häufig, nicht nur im religiösen Kontext, gebraucht wird, und zwar im Sinne: „Alles ist vergänglich” oder „Alles Vergängliche” oder einfach: „die Vergänglichkeit”. Dieser eine Begriff „Anytya” führt allerdings einen spezifischen Kontext mit sich, fordert also zu einer anderen Lektüre auf.
Es lautet: „Alles Vergängliche/ Ist nur ein Gleichnis”. Die Vergänglichkeit ist also vorausgesetzt. Es soll aber „nur ein Gleichnis” sein: etwas Verweisendes dann. Die folgenden Dikta sind schwer zu verstehen und schwerer mitzuteilen. „Das Unzulängliche” soll im Drama zum „Ereignis” geworden, ebenfalls soll „Das Unbeschreibliche” getan worden sein. In beiden Fällen gelangt etwas nicht Ausreichendes, etwas noch Abstraktes zum wesentlichen Zustand. Hier im zweiten und dritten Vers verläuft die Richtung vom Mangel, beziehungsweise von der Leere zur Erfüllung, vom Potentiellen zum Aktuellen, während es im ersten Vers um einen Abstraktionsvorgang geht. Am Ende dieses Prozesses von der Negation zum wiederholten Umschlag ins Gegenteil wird noch ein erstaunliches Diktum hinzugefügt: „Das Ewig-Weibliche / Zieht uns hinan”.
We cannot honestly say that this deep wisdom of the final stanza grows out of the poem; it grows rather out of the other side of Goethe´s mind which ´Faust´ is incapable of expressing. If we wish to understand what ´das Ewig-Weibliche´ and the attitude of acceptance meant to him, we have to go outside Faust and read the rest of his poetry… the poem seems to pass beyond our reach and hearing rather than to stop. (2)
„Outside Faust”, was hier über unsere sinnliche Erreichbarkeit „hinaus zu gehen scheint”, oder: diese Macht des kurzen Textes erlaubt uns den Versuch einer gewagten Lektüre, die einen literarischen Text und einen religiösen zusammenführt. Denn die semantische Struktur des knappen Chorus-Textes – bes. der ersten zwei Doppelverse – aus wiederholten Negation erinnert, trotz des fast evidenten christlichen Bezuges des Textes und seines Kontextes der ›Grablegungs‹- und ›Bergschluchten‹-Szene – nicht wenig – auch an die buddhistische Lehre und ihre Lexik. Somit wird hier der kurze Text ›Chorus mysticus‹ – behutsam – auf die Folie der buddhistischen Schriften gelegt, um schließlich aber vielmehr die Folie selbst klar zu machen.
1. (Negative Lexik) Auf die Folie der Weisheiten- und Diamanten-sutra
Im Buddhismus, wie er mir vermittelt worden ist, geht es in erster Linie um Weisheiten zur Leidensbewältigung. Dies gründet in der tiefen Erkenntnis der Vergänglichkeit von allem, hauptsächlich des Körperlichen: Die Elemente sind vergänglich.(3) Der Kernsatz lautet in der Großen Weisheiten-Sutra umfassend:
Das Körperliche ist die Leere
Die Leere ist das Körperliche.
Das Körperliche kann dabei durch die Substanz ersetzt werden. Wörtlich ist es eigentlich „Farbe”:
Die Farbe ist die Leere
Die Leere ist die Farbe
Die „Farbe” umfaßt die Materialität mit ihrer Körperlichkeit und Sinnlichkeit, auch mit deren Farbigkeit. Die Substanz bedeutet hier die Leere und die Leere die Substanz. Anscheinend geht es um eine sinnlose Tautologie. In diesem Paradox, eher einem Oxymoron, geht es aber um eine der Kernlehren des Buddhismus.(4)
Die Große Weisheiten-Sutra, Maha prajna paramita hrdaya sutra, in der dieses Diktum als dritter Satz steht, wird öfters auch die ,Lehre von der Leere” genannt. Nicht nur dieser Satz, sondern die buddhistischen Schriften im allgemeinen sind durch ihre dominierende Lexik der Negation und Wiederholung wie auch durch die Häufigkeit von Gleichnissen geprägt.
In der Schrift der Weisheit, der Großen Weisheiten-Sutra, wird die Wahrheit demonstrativ durch die Negation offenbart. Sie besteht in ihrer fernöstlichen Version aus nur 270 chinesischen Zeichen. In dem kurzen Originaltext kommt das Negationspräfix „nicht-” beziehungsweise „a-” neun mal vor, das Nomen „Nichts/nichts” einundzwanzig mal und der Kernbegriff – die Leere – sieben mal. Über ein Zehntel der Schriftzeichen davon ist also „Nichts”. Auch in der Ausdrucksweise läßt sich dementsprechend kaum eine positive Definition finden – daß etwas so und so sei –, sondern sie besteht aus lauter Negationen: daß etwas nicht so und so sei, daß es dieses und jenes nicht gebe. (Man siehe die Übersetzung des Textes in der Fußnote.(5))
Diese entschiedene Negationslexik hat aber nicht mit Nihilismus zu tun, der als „böse Adaption der Lehre von der Leere” im Buddhismus verpönt ist. Es geht vielmehr um die Weisheit der Distanzhaltung zu Abhängigkeiten aller Arte – schließlich um eine sinnvolle Lebensführung. Darauf weisen die implizierten dynamischen Momente der extremen Negationslogik hin: „Körperliches ist die Leere/ die Leere Körperliches”. Die Lesart eines ergiebigen deutschen Faust-Kommentars ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert, weil er den gesamten Eindruck vom Text wie die Auswirkung des Textes auf eine aufmerksamen Leser vermittelt:
Alles auf Erden ist vergänglich. Unter diesem Zeichen lebt der Mensch sein einziges, für ihn alles bedeutendes Leben. Aber dies ist nur ein Gleichnis von etwas Höherem, ein Schein der Wahrheit, ein Abglanz des Ewigen, wie Faust selbst erkannte (V. 4727), ohne sich dessen bewußt zu bleiben.(6)
Der Schlußchorustext Fausts schöpft seine Dynamik aus den zweistufigen, teils steigernden, teils retardierenden Parallelsätzen – „Das Unzulängliche….” und „Das Unbeschreibliche….” – nach der Negation des ersten Verspaares. Diese Dynamik verleiht den letzten Versen „Das Ewig-Weibliche ….” das Gewicht des Höhepunktes und des Finalen, wodurch die offene Aussage am Ende mit einem gravierenden Schlußpointe versehen wird. Diese durch Negation gesteigerte Dynamik – kann man sagen – teilt auf der inhaltlichen Ebene eben der große Antagonist Mephistopheles.
Um ein wenig über das Drama hinauszugehen: Hier kann sich jene bekannte heitere Selbstreferenz Goethes anschließen: Sein unvergleichliches Lebenswerk nannte er nämlich „diese sehr ernsten Scherze”.(7) Die rhetorische Figur „sehr ernste Scherze” ist selbst „nur ein Gleichnis”, aber „mit Hilfe dieser Figur gelingt es Goethe, jenseits von Religion und Philosophie in der unzulänglichen Sprache der Dichtung [auch auf] eine [mögliche] dichtungsgemäße Lösung der menschlichen Existenz und Transzendenzproblematik”(8) hinzuweisen.
2. (Das Drama) Auf die Folie der Lotus-sutra
In diesem Sinne läßt sich der kurze Chorus-Text noch einmal auf eine buddhistische Folie legen: Einige Parallele im Argumentationsgang (bzw. Handlungsverlauf/ Entfaltungsimpuls) bringen nämlich einen literarischen Text vom außergewöhnlichen Umfang und einen religiösen im einzigartigen Stil doch einigermaßen nahe.
2.1. „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis”
Die buddhistischen Schriften sind überhaupt durch die Bildersprache geprägt; in besonders großem Maß die Lotus-sutra, eins der wichtigsten und einflußreichsten aller Sutras, eben die Kanon des Mahayana-Buddismus. „Lotus” steht für „das wunderbare Gesetz der Wahrheit” Buddhas. Im ganzen ist der Text metapherreich und poetisch. Auch der Anteil der Verse ist groß: In jedem Kapitel wie nach dem wichtigen Abschnitt folgen auf die Prosa immer Verse, wiederholend und resümierend. Die Vermutung, daß der Versteil eher älter sei und der vorangehende Prosateil erst später hinzugefügt werden kann,(9) ist stark vertreten. Die poetische Sprache wie vielfache Wiederholungen dienen schließlich zum Diskurs des zwanglosen, sanften Überredens, das innere Billigung der Zuhörenden wie der Leser erzielt.
Die Lotus-sutra besteht aus 28 Kapiteln. Nach zwei einleitenden – In dem ersten, der ›Einleitung‹, ist davon die Rede, wo und wann diese Rede Buddhas gehalten wurde; im zweiten ist die Notwendigkeit vom Gebrauch der „Werkzeuge” (Hilfsmittel, Maßnahme oder Methode) betont hervorgehoben. – wird vom 3. bis 7. Kapitel die Lehre des Lotus-sutra sehr mittelbar, anhand der Gleichnisse beziehungsweise Parabeln vermittelt, (bis Buddha auf die wiederholten Bitten seiner Lehrlinge hin nach dem großen Retardieren kurz zum Diktum kommt. Danach geht es ums Praktizieren der Lehre und dessen Beispiele.) Im 8. geht es um das „Ereignis” der Nirvana Buddhas, wiederum anhand des Gleichnisses einer Pagode, die am Sterbeort Buddhas erscheint und hochragt. In den darauf folgen Kapiteln geht es mehr oder weniger um die Praxis der Lehre: Weiter- und Wiedergabe der Lehre durch verschiedene Aneignungsweisen. Es wird also an Beispielen gezeigt, wie die Lehre von den Jüngern weitergegeben und praktiziert wurde.
Im Zusammenhang mit der Notwendigkeit vom Gebrauch der „Werkzeuge” (Methode) und dessen Betonung wird also die Lehre erst in Gleichnissen wie Parabeln gegeben.(10) In dieser Hinsicht gilt die Lotus sutra als „Ultimum der Methode wie der Gleichnisse und der Parabeln”, wie die Untertitel der koreanischen Übersetzung es demonstriert. Das erste und eins der vier wichtigsten Gleichnisse bzw. Parabeln(11) ist das des brennenden Hauses im dritten Kapitel „Gleichnis und Parabel”. Der Inhalt des Textes voller Vergleiche, Wiederholungen und rhetorischen Fragen ist wie folgt zu resümieren:
Ein sehr großes Haus mit einer Tür stand in Brand. Der Vater will seine vielen kleinen Söhne zur Flucht verhelfen, die ins Spiel vertieft die Gefahr nicht gewahren, nicht einmal Ahnung davon haben und sich nicht zur Flucht überreden lassen. Der Vater ist mächtig, aber rettet seine Söhne nicht selbst. Er denkt Maßnahme aus, womit die vielen kleinen sich selber retten können: Er verspricht ihnen etwas, was sie aus dem brennenden Haus verlocken kann: drei Wagen – Ziegewagen, Hirschwagen, Ochsenwagen – , die draußen ihnen zur Verfügung stünden. Die Söhne rennen alle erfreut, freiwillig aus dem Haus. Damit ist dem Vater nämlich gelungen, seine Kinder zu retten. Dem Verlangen der Söhne darauf entsprechend gibt dieser reiche Vater ihnen allen Wagen, aber nicht jedem drei Wagen; jeder kriegt nämlich einen gleich absolut prächtigen, mit allerlei Edelsteinen geschmückten Luxuswagen, den ein edler weißer Ochs zieht.
Das brennende Haus ist verständlicherweise ein Gleichnis von dem irdischen Leben voll von Leiden und Bedrohungen, wie die ganze Parabel dann für die Rettungsaktion durch Buddha steht. Die Frage, die Buddha unmittelbar darauf stellt, lautet: Ob der Vater dann gelogen hätte, indem er statt aller drei versprochene Wagen jedem einen absolut übertreffenden Wagen schenkt. Die Frage wird dann von dem Zuhörenden, dem Lehrling Buddhas, als gegenstandlos beantwortet, weil es zuallererst um die Rettung der Kinder und zwar der eigenen geliebten geht, der Vater derart wohlhabend ist, daß er dergleichen in seinen Lagerhäusern in unzähliger Menge hat, und diese Wohltat ist außerdem auch anderen Menschen schon ausgeteilt.
Dieser Prachtwagen steht eben für die Große Lehre Buddhas dar. Die Lehre gilt als Hilfsmittel: als „Fahrzeug/ Wagen” auf dem Weg dazu. Um die Erleuchtung zu erreichen, muß man zuerst selber drein einsteigen. Dabei gibt es (praktisch zur Wahl) drei Wagen: der erste steht für die Erkenntnis überhaupt, der zweite für die Selbstfindung bzw. -rettung und der dritte für die allgemeine Rettung der Menschen. Der dritte Wagen, den der reiche Vater seinen ahnungslosen kleinen Söhnen allen – jedem einen gleichmäßig prächtigen – ohne weiteres schenkt, übertrifft alles andere; schließt also den ersten und den zweiten schon ein und macht extra Geschenk von dem ersten und dem zweiten überflüssig. Hier geht es also um die Kernlehre des Mahayana („Großen Fahrzeuges”)-Buddhismus.)
Das abrupte Diktum eben am allerletzten Ende des umfangreichen Dramas „Alles Vergängliche/ Ist nur Gleichnis” läßt auch am Ende der Faust-Lektüre eine Frage auftauchen: Ob es mit dem umfangreichen Drama selbst schließlich nicht ebenfalls um ein Gleichnis ginge.
2.2. ,Das Unzulängliche ist hier zum Ereignis geworden”
Die kleinen Söhne in der Parabel, die ohne Ahnung von der drohenden Gefahr in Spiel vertieft sind, stehen für die von Leiden gedrückten Menschen. Von Leiden gefesselt und ohne Übersicht über ihre Lage, bleiben sie nur in die Zerstreuung vertieft und von der Erkenntnis des Wahren weit entfernt: Die blinden leidenden Menschen mit unzulänglichen Selbstkenntnissen also.
Diese erweisen sich in der Parabel – eben dank der richtigen „Werkzeuge” des weisen „Vaters” – doch als imstande, sich zu retten. Etwas unwahrscheinlich Besonderes, ereignet sich: Innerhalb der Parabel die Rettung der Unzulänglichen, und im Rahmentext ein erstaunlicher Hinweis auf die Möglichkeit der Rettung und Selbstrettung des blinden Menschen.(12)
Was im ›Chorus mysticus‹ zum „Ereignis” wird, scheint innerhalb der letzten Szene der Seelenwanderung Fausts (›Bergschluchten‹) die Rettung Fausts zu sein. Was „hier” geschieht, kann aber je nach der Definition von ,hier” etwas völlig anderes sein, wie etwa; das Bühnengeschehen. So gesehen, hat eben ein Theaterstück vom unwahrscheinlichen Umfang erstaunlicherweise stattgefunden. Auf alle Fälle erlebt im Faust-Drama etwas Unzulängliches einmal eine ganz besondere Entfaltung seines Wesens; somit weist es nicht bloß auf mannigfaltige Deutungsmöglichkeiten hin, aber auch auf die grenzüberschreitende Möglichkeit des beschränkten Menschen.
2.3. „Das Unbeschreibliche ist´s hier getan”
Ein „Ereignis” wie die Rettungsaktion kann natürlich über den beschreibbaren Maß hinausgehen. Vor allem aus zweierlei Gründen: An sich kann das Ereignis unbeschreiblich herrlich sein. Es kann auch die Wahrnehmungs- bzw. Aufnahmefähigkeit des/ der Betreffenden überfordern. Dies ist eben der Grund, warum die buddhistische Schriften Gleichnisse und Parabeln vorziehen; besonders im Fall der Lotus-sutra derart explizit, daß die Erklärung dieser Notwendigkeit einen wichtigen Bestandteil bildet. In unserer Parabel vom brennenden Haus ist schon der Glanz des letzten Endes gegönnten luxuriösen Ochsenwagens im Vergleich zu anderen Dingen ausführlich beschrieben:(13)
In dem vierten, im letzten der wichtigen vier Gleichnisse, findet dieser Beschreibungsversuch aber in unvergleichlich großem Maß statt. Damit wird die Vollentfaltung des Reichs Buddhas gezeigt, das grenzenlose Gebiete umfaßt, mit Unmenge von Edelsteinen geschmückt ist und mit himmlischen Blumenregen bedeckt wird, wenn der Buddha spricht: eine Paradies-Szenerie. Die beschriebene Pracht stellt schließlich etwas dar, was sich kurz mit einem Wort „unbeschreiblich” ersetzen läßt.
Faust-Drama, das unmöglich scheint, ist in allen Fällen vollendet. Die Seelenwanderung Fausts ist herrlich, aber auch unwahrscheinlich; weil seine „Rettung” bei all seinem Sinn fürs Allgemeinwohl am Ende(14) einem noch unglaublich vorkommt, wenn man an die vielen von ihm begangenen Taten(15) dem positiven Gesetz nach denkt. Diese suspekte Rettungsaktion bleibt womöglich u. a. deswegen im schillernden Licht. Einer solchen unglaublichen Rettungsgeschichte einschließlich, endet ein Drama mit dem Chorus: Etwas ist vollendet, wessen Umfang und Zeitdauer über die Vorstellung von einem Drama hinausgeht.
Diese Vollendung erscheint vor dem fernen Hintergrund des Gesprächs vom Theater im ›Vorspiel auf dem Theater‹ noch erstaunlicher. Der Theaterdirektor in seiner kommerziellen Orientierung an der Gewinnsucht vertritt im gewissen Sinne auch den allgemeinen gesunden Verstand vom Theater:
Gebt Ihr ein Stück, so gebt es gleich in Stücken!
Solch ein Ragout, es muß Euch glücken;
Leicht ist es vorgelegt, so leicht als ausgedacht.
Was hilft´s, wenn Ihr ein Ganzes dargebracht,
Das Publikum wird es Euch doch zerpflücken.(V. 99-103)
Eben diese Vorstellung vom Drama erweist das Faust-Drama mit seiner Vollendung als gegenstandlos.
In anderer Hinsicht läßt sich in dieser höchst verzerrten, im Munde des gewinnsuchenden Theaterdirektors gelegten Rede, jedoch auch ein – verzerrtes – Gleichnis wie gewisse Rücksicht auf die begrenzte Aufnahmefähigkeit der Masse ablesen. In der völlig gegensätzlichen Richtung als die der Benutzung der „Werkzeuge” durch Buddha wird ein „Ganzes” vollbracht.
Was das Faust-Drama vom Theaterkonzept des Theaterdirektors zum Dichterideal vom Unsterblichen(16) durchgaloppiert, findet sich ebenso in Kleinigkeiten widerspiegelt wie im Groß- und Ganzen: etwa in dem Wortschatz Gretchens in der dem Chorus vorangehenden ›Bergschlucht‹-Szene. In der großen Seelenwanderung darf Gretchen, nun himmlisch verwandeltet („Die eine Büßerin, sonst Gretchen genannt”), die Seele Fausts führen. Das Chor der Büßerinnen, zu denen Gretchen gehört, singt nämlich bittend – „Du schwebst zu Höhen/ Der ewigen Reiche,/ Vernimm das Flehen” – Maria an:
Du Ohnegleiche,
Du Gnadenreiche!(V. 12035f.)
Hier in dem Wort „Gnadenreiche” klingt eine alte Anrede Gretchen im tiefen Schmerzen an Mater Dolorossa (›Zwinger‹).
Ach neige,
Du Schmerzreiche,
Dein Antlitz gnädig meiner Not!(V. 3588ff.)
In vager Reminiszenz vom alten Schmerzen, doch stark kontrastierend, weist dieser eine Reim („Du Gnadenreiche” – „Du Schmerzreiche”) auf die ganzen dramatischen Geschehnisse hin, aufmerksame Ohre zutiefst beeindruckend. An all die alten Leiden Gretchens erinnernd, aber auch die Steigerung ihrer Seele vergegenwärtigend. „Das Unbeschreibliche/ Ist”also auch „hier getan”. Selbst in einer solchen Kleinigkeit, auch dadurch und mittels deren.
2.4. „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan”
Dennoch das letzte, urplötzliche Diktum in Faust, auf dem das Gewicht des allerletzten Schlusses verlegt wird, verblüfft uns: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan”.
Noch verblüffender ist Buddhas Entblößung in der Lotus-sutra: Nach all den Gleichnissen wie Parabeln, nachdem selbst die ganze Grandpanorama der Nirvana im „Land Buddhas mit seiner zehn Richtungen” ausführlich dargestellt worden ist, und vielmals wiederholt davon erzählt worden ist, erklärt Buddha nämlich, daß selbst die eben beschriebene Nirvana-Szene bloß ein Gleichnis gewesen sei, schließlich bloß ein Phantom (7. Kap. ›Phantomstadt‹). Das habe er aber für die ermüdeten Suchenden als ein „Werkzeug” genommen, damit diese nach einer Pause der Erholung erfrischt den Weg bis zum Ende gehen könnten.
Es heißt nämlich, daß all die bunten Bilder und mannigfaltigen Gleichnisse eigentlich unbeirrt ein Ziel verfolgen und schließlich zu der konsequent verfolgten Lehre dienen. Befremdend, verfremdend wird diese Tatsache dem Leser entschieden und unmittelbar verkündigt. Diese Erklärung Buddhas, ein Moment der höchsten Desillusionierung für den Leser, kann in einer religiösen Schrift nur einmalig sein; in ihrer Darstellungs- bzw. Enthüllungsweise übertrifft sie in hohem Maß fiktive Künste.
Was am Schluß des Faust-Dramas uns verblüfft, ist nicht nur die Unverblümtheit einer Botschaft, sondern auch im Kern eine ähnliche Unmittelbarkeit der Aussage, die im gewissen Sinne den Verlauf bis dahin negiert, überflüssig macht, dessen Kraft/ Graviertheit und Plausibilität aber erst von der ganzen mannigfaltigen dramatischen Entfaltung bis dahin herrühren.
Vielleicht kann das Faust-Drama, wenigstens für Goethe in seinen letzten Jahren, wo der Schlußteil geschrieben wurde, – abgesehen von Plan oder Absicht – im gewissen Maß sein „Werkzeug” für die Vermittlung des Wahren gewesen sein. Diese Vermutung legen uns neben dem besprochenen Text die wiederholten Bekenntnisse des alten Goethes nahe, daß „das Wahre mit dem Göttlichen und Ewigen identisch” ist und daß wir es „nur im Abglanz, im Beispiel, im Symbol” schauen und daß es uns im Erdenleben als Bild und Gleichnis des Unvergänglichen vorschwebt.(17)
Umgekehrt weisen sie nicht nur auf Goethe als Neuplatoniker hin, dem das Höhlengleichnis im Sinne geblieben sein muß. In dem Gleichnis Platons sind wir Menschen als solche beschrieben, die im Leben nur die Schatten der ewigen Ideen schauen. Hier, in diesem Schatten, Dunkel und Dünkel hat eben der Buddhismus seinen Ansatz.
Anmerkungen:
3.2. Transcontinental Transfer of Literature and Arts to Transform Traditional Societies
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Webmeister: Gerald Mach last change: 2010-03-21