Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften | 17. Nr. | März 2010 | |
Sektion 6.8. | Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive Sektionsleiter | Section Chair: Oliver Ruf (Universität Trier) |
Der Schmerz als Ausnahmezustand des Körpers
in Medizin, Psychoanalyse und Literatur
Iris Hermann (Bielefeld/Siegen) [BIO]
Email: iris.hermann@uni-bielefeld.de
Schmerz zu empfinden ist, genau genommen, keine Ausnahme, fast jeder Mensch kennt Schmerz, er ist da bei seiner Geburt und vermutlich auch am Ende des Lebens. Die Rede ist hier jedoch von einem Schmerz besonderer Qualität, besonderer Quantität. Es gibt Schmerzempfindungen, die so in den Vordergrund treten, dass sie andere Emotionen überlagern, ja verhindern. Ein solcher Schmerz, insbesondere dort, wo er chronisch geworden ist und keine Warnfunktion mehr hat und nur noch auf sich selbst in nicht endender Qual verweist, ist ein Ausnahmezustand, bzw. bringt den Menschen, der ihn spürt, in einen solchen.
Welche Überlegungen haben die Medizin seit der Antike, später im beginnenden 20. Jahrhundert die Psychoanalyse und schließlich die Literatur einem solchen Ausnahmezustand gewidmet? (1)
1. Der Schmerz im Denken der Medizin
In der Antike wird Schmerz in der sogenannten „Säftelehre“, im humoralpathologischen Denken also, das noch bis ins 18. Jahrhundert hinein seine Wirkung behalten wird, als ein Ungleichgewicht der Körpersäfte aufgefasst (etwa bei Hippokrates) , vor allem aber wurde die desintegrierende Funktion des Schmerzes wahrgenommen. Schon Galen (Galenus von Pergamon, um ca. 130-200 nach Christus) hatte Schmerz in erster Linie als Integritätsverletzung aufgefasst, als Folge einer „solutio continuitatis“, „einer Trennung von Zusammengehörigem, oder eine plötzliche heftige Veränderung, die sozusagen den Zusammenhang der Zeit unterbricht.“ (2) Diese Überlegung, Schmerz als Trennung von Zusammengehörigem zu betrachten, ließ es zu, Schmerz einerseits als von einer Wunde herrührend zu erklären und schloss andererseits den Schmerz über ‘Brüche’ im Leben nicht aus. Zunehmend aber konzentrierte sich der ärztliche Blick organmedizinisch geleitet auf die Wunde, die organische Läsion, wenn von Schmerz die Rede war. Nervenbahnen meldeten den Schmerz, der von einem organischen Schaden herrührte, der Schmerz wurde zum „Leitungsereignis“ (3) und forderte dazu heraus, seine Spürbarkeit durch Unterbrechung solcher Leitungsbahnen zu beseitigen. Von René Descartes stammt die oben schon erwähnte Vorstellung, bei den Nerven handele es sich um eine Art von Seilen, die zwischen der Quelle und Ursache des Schmerzes und seiner Wahrnehmung eine Distanz legen. In den sogenannten Spezifitätstheorien wurde die Vermutung Descartes objektiviert und am Ende des 19. Jahrhunderts ging Max von Frey davon aus, für jede Art der Empfindung gäbe es einen speziellen Rezeptor und demnach seien auf der Haut spezifische Schmerzpunkte lokalisierbar. (4) Ein Schmerzzentrum im Gehirn konnte aber trotz aller Ausdifferenzierungen der Theorie nicht gefunden werden, Schmerz rein neurophysiologisch erklären zu wollen, erwies sich letztendlich als unzureichend. Den Spezifitätstheorien wurden deshalb Funktionsmustertheorien an die Seite gestellt, die Schmerz als Folge der Summe von Erregungen (so wird an Aristoteles’ Überreizungsmodell angeknüpft) und des Zusammenwirkens bestimmter Erregungsmuster verstanden. (5) Die Schmerzleitungsmodelle behielten noch lange die Oberhand, nicht zuletzt deshalb, weil sie die Grundlage für den Wunsch bildeten, Schmerz endlich wirksam ausschalten zu können, ein Wunsch, der sich am 16. Oktober 1846 erfüllte, als zum ersten Mal eine wirksame Äthernarkose gelang. Was wie ein Segen aussah und es natürlich in vieler Hinsicht auch war, gestattete aber umso invasivere Eingriffe in den Körper. Die generell so begrüßenswerte Möglichkeit der Schmerzausschaltung war nicht nur positiv zu bewerten, wird der Schmerz einfach ausgeschaltet, muss man nun nicht mehr darauf achten, ihn in das gesamte Leben einer Person zu integrieren, ja den Schmerz mit integrierenden Maßnahmen (Verbinden, Massieren, Bäder, Wickel, Kälte- und Wärmeanwendungen usw.) zu behandeln. Diese vorsichtigen integrativen Methoden, mit dem Schmerz umzugehen, wurden unpopulär, ihre lindernde Wirksamkeit bestritten. Wo Schmerz ausschaltbar wird, werden auch andere integrierende Funktionen vernachlässigt. Mitleid braucht man dort nicht mehr, wo kein Schmerz mehr ist. Diese Anästhesierungseuphorie ist heute verebbt, der rasante Anstieg chronischer Schmerzphänomene, (6) die sich jeder Analgesierung resistent erweisen, hat in den letzten vierzig Jahren schrittweise zu Schmerzkonzepten geführt, die dem Rechnung tragen müssen, dass nicht jeder Schmerz ‘ausgeschaltet’ werden kann. In den sechziger Jahren entstand mit der sogenannten „Gate-Control-Theorie“ ein neues Modell der Schmerzerklärung: Robert Melzack stellte zusammen mit seinem Kollegen P. D. Wall die Theorie auf, „dass ein neurophysiologischer Mechanismus im Rückenmarkshorn wie eine Schranke wirkt, die den Fluß von Nervenimpulsen aus den peripheren Organen zum Gehirn fördert oder herabsenkt Wenn das Ausmaß der gesendeten Informationen einen kritischen Punkt überschreitet, dann werden neuronale Strukturen aktiviert, die für die Schmerz-Erfahrung und die Schmerz-Antwort verantwortlich sind.“ (7) Die grundsätzliche Neuheit an dieser Auffassung war, dass dem Gehirn eine bedeutende Rolle bei der Entstehung der Schmerzwahrnehmung zugesprochen wurde, wenn auch sehr kontrovers diskutiert wurde, ob gerade chronische Schmerzsyndrome nun eher zentral oder peripher entstehen. (8) Grundsätzlich aber differenzierte sich die medizinische Betrachtungsweise über den Schmerz so aus, dass es nicht nur möglich wurde, Schmerz als so komplexes Wahrnehmungsgeschehen zu begreifen, dass die zunächst so plausible Unterscheidung zwischen ‘körperlichem’ Schmerz und ‘seelischem’ Schmerz sich als zunehmend immer unbefriedigender erwies. Immer deutlicher zeichnete sich ab, dass gerade der chronische Schmerz in komplizierten Wechselwirkungen entstanden und aufrechterhalten wurde, die Psyche und Soma in ihrem Zusammenspiel betrafen. Die alte Vorstellung von Galen von der „solutio continuitatis“ erhielt so wieder Aktualität. Darüber hinaus öffnete sich der medizinische Diskurs gerade auf dem Gebiet der Schmerzforschung für Ansätze, die anderer Provenienz waren und dies meint in erster Linie psychologische Modelle im weitesten Sinne.
2. Schmerz im Denken der Psychoanalyse
Freud selbst betrachtet den Schmerz als ein hochkomplexes Affektkonglomerat, das je nach Situation vom Individuum immer wieder anders bewertet wird. Jean Bertrand Pontalis kommt das Verdienst zu, Freuds nur sehr verstreut vorliegende Überlegungen zum Schmerz gebündelt und treffend analysiert zu haben. Pontalis nennt seine Analyse Über den „psychischen“ Schmerz (9), aber es wird deutlich, dass damit das Spüren des Schmerzes im Körper einbegriffen ist. (10) In seinem Entwurf einer Psychologie (1895) stellt Freud dem Schmerz nicht die Lust, wie vielleicht zu erwarten gewesen wäre, sondern das Paar Lust/Unlust gegenüber. (11) Schmerz wird dort vor allem als Zusammenbruch eines Reizschutzes begriffen, der dann eintritt, wenn übergroße Energiemengen alle Abschirmvorrichtungen durchbrechen. Die Reize stellt sich Freud als von der Peripherie herkommend vor, im Innern des Körpers, in seinem Kern, muss dann für die Abfuhr einer solchen (Über-) Besetzung gesorgt werden. Schmerz ist auch für Freud (wie es auch bei Aristoteles der Fall war) ein Zuviel an Reiz, eine Überreizung, die er in maschinellen Bildern sich vorstellt. Pontalis weist darauf hin, dass Freud an anderer Stelle (12) den Schmerz als „Loch im Psychischen“ und als „innere Verblutung“ bezeichnet, so als schaffe das „Übervolle eine Leere“. (13) Pontalis fügt hinzu: „Das Bemerkenswerte an diesem kleinen einsichtsvollen Text ist dies, dass die (scheinbare) melancholische Verarmung der (wirklichen) neurasthenischen Verarmung gegenübergestellt wird: dort: zuviel, hier: nicht genug.“ (14) Ganz eigene Überlegungen Freuds entstehen dort, wo er über die mitunter ambivalente Funktion von Schmerz nachdenkt. Schmerz ist für ihn nicht einfach die Umkehrung von Lust, auch kein mit der Unlust oder Angst gleichzusetzendes Gefühl, sondern ein unangenehmer, aber gangbarer Weg zur Vermeidung einer größeren Trauer um den Verlust eines verlorenen Objektes: „Mitunter dient das manifeste, lärmende, wiederholte Leiden gar als Schirm gegen den Schmerz. [...] Viel zu leiden – da, wo es sein muß, und solange es sein muß –, um nicht zuviel und auf ewig zu leiden?“ (15) Was Unlust und Schmerz für einen Teil des Ich bedeuten, kann für ein anderes Ichsystem (z. B. das Über-Ich) unter Umständen eine Art Lustprämie bereithalten. Pontalis geht so weit, dem Schmerz nach Freudscher Auffassung eine ganz eigentümliche und nicht eben unproblematische Schlüsselposition innerhalb der Ichfunktionen zuzuweisen: „Schmerz: Verkopplung von Draußen und Drinnen, Realität und Phantasie, Vergangenheit und Gegenwart. Dieses Körper an Körper läßt sich schwer nur auflösen.“ (16)
Als Tor zwischen Innen- und Außenwelt hat der Schmerz eine wichtige Funktion, die ihn für den literarischen Text interessant macht. Seine Zwischenstellung lässt sich zudem lebensgeschichtlich deuten. Er vermittelt zwischen Vergangenheit und Gegenwart und nimmt so eine Erinnerungsfunktion wahr. Schmerz inszeniert und aktualisiert, er realisiert ein schwer fassbares Geschehen, indem er es in unmittelbarer Weise auf das Erleben des Subjekts bezieht. Das Paradox des Konversionsschmerzes besteht darin, zugleich zu verhüllen, was er zeigt. (17)
3. Schmerz im literarischen Diskurs
In historischer Perspektive den Schmerzdiskurs in der Literatur zu betrachten, ist in dieser Kürze nur sehr holzschnittartig möglich. Ich gehe deshalb an dieser Stelle zu einer systematischen Betrachtung über.
Meine systematischen Fragen zielen in diesem Zusammenhang auf den Schmerz am besonderen Ort des literarischen Textes: Wie artikuliert sich Schmerz als Phänomen in literarischen Texten?
Wie wird er dort gestaltet, und, systematischer betrachtet, wie gestaltet sich der Text durch ihn?
Viele der Texte, in denen Schmerz in signifikanter Weise vorkommt, weisen deiktische Strukturen auf. Sie zeigen den Schmerz und verzichten dabei auf Erklärungen. Da kommt es anscheinend viel weniger darauf an, Ursachenforschung zu betreiben, als vielmehr den drängend peinigenden Schmerz zu verorten, zu zeigen also, wo sich das Geschehen des Schmerzes abspielt, wo am und im Körper und auch an welchem Ort. Die deiktische Struktur wendet sich in besonderer Weise an das Sehen, es sind dabei vor allem topographische Muster wie in dem kanonischen Schmerztext schlechthin, die Rede ist von Sophokles Drama Philoktet, die Orte ausstellen. Hier ist es die berühmte Felsdachhöhle, in der Philoktet seine Pein durchleidet und die ihm, dadurch dass sie an zwei Seiten geöffnet ist, auch keinen besonderen Schutz bieten kann. Topographische Bilder des Schmerzes finden sich auch in der Moderne wieder, etwa in den Gedichten Celans in Bildern von Ausstülpungen für den Schmerz und in dem Gedicht Mittags spricht ein Ich von seinem „gekammerten Schmerz“:
MITTAGS, bei
Sekundengeflirr,
im Rundgräberschatten, in meinen
gekammerten Schmerz
- mit dir, Herbei-
geschwiegene, lebt ich
zwei Tage in Rom
von Ocker und Rot -
kommst du, ich liege schon da,
hell durch die Türen geglitten, waagrecht -:
es werden die Arme sichtbar, die dich umschlingen, nur sie. Soviel
Geheimnis
bot ich noch auf, trotz allem. (18)
Ein Du sucht das Ich in seinem „gekammerten Schmerz“ auf. Es betritt damit einen inneren verborgenen Raum, (19) der in dieser Begegnung nur einzelne Körperteile sichtbar werden lässt: sich berührende Arme. Was noch geschehen ist, wie der gekammerte Schmerz genau aussieht, bleibt „Geheimnis“. (20)
In manchen anderen Texten verdichten sich die topographischen Muster und Bilder zu ganzen Allegorien des Schmerzes. Ein Beispiel dafür ist die „Leidstadt“, die Rainer Maria Rilke in der letzten, der zehnten seiner Duineser Elegien, entwirft:
DASS ich dereinst, an dem Ausgang der grimmigen Einsicht,
Jubel und Ruhm aufsinge zustimmenden Engeln.
Daß von den klar geschlagenen Hämmern des Herzens
keiner versage an weichen, zweifelnden oder
reißenden Saiten. Daß mich mein strömendes Antlitz
glänzender mache; daß das unscheinbare Weinen
blühe. O wie werdet ihr dann, Nächte, mir lieb sein,
gehärmte. Daß ich euch knieender nicht, untröstliche Schwestern,
hinnahm, nicht in euer gelöstes
Haar mich gelöster ergab. Wir, Vergeuder der Schmerzen.
Wie wir sie absehn voraus, in die traurige Dauer,
ob sie nicht enden vielleicht. Sie aber sind ja
unser winterwähriges Laub, unser dunkeles Sinngrün,
eine der Zeiten des heimlichen Jahres-, nicht nur
Zeit-, sind Stelle, Siedelung, Lager, Boden, Wohnort. (21)
Hier kommt ein Schmerzbegehren zum Ausdruck, das um das Weinen weiß, das Nicht-mehr-Aushalten-Können und dennoch dem Schmerz sich ergeben möchte, ja das Sich-Ergeben von sich fordert und wünscht. (22) Schmerz ist in dieser Elegie das Eingangstor zum ästhetischen Schaffensprozess, der ohne Berührungen mit dem Schmerzhaften nicht zu denken ist. (23) Rilke macht den Schmerz spürbar, indem er das Bange, das ganz menschliche Zurückzucken vor ihm als Ausgangspunkt wählt und sich aber eine Gelassenheit erhofft, welche die Schmerzerfahrung verwandelt in eine Ästhetik, die ihre Impulse gerade aus dieser Auseinandersetzung von Schmerz und seiner Überwindung bezieht. (24) Die Schmerzen bekommen wie bei Celan Namen, sie sind wichtige Einschnitte, und, vor allem, sehr lakonisch, aufzählend, ganz auf die reine Wirkkraft der Bilder vertrauend: Räume, Orte. ein Wohingehören, Ankommen und Verhaftetsein.
2. Schmerz als Klang
Oftmals gerät das Sprechen des Schmerzes an seine Grenze, dort nämlich, wo alles Zeigen nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass eine adäquate Darstellung des Schmerzes sich dem Verstummen annähert oder sogar eine Leerstelle bildet. Das ist zeitgenössisch in den Texten Elfriede Jelineks der Fall, die vor Gewalt überströmen, dabei aber auf fast jede Schmerzäußerung verzichten. Manchmal ergreift die literarische Darstellung des Schmerzes, eine Stufe zuvor sozusagen, die Möglichkeit, Schmerz in Klang zu verwandeln. Genauer betrachtet heißt das, dass Schmerz in einer Sprache artikuliert wird, die kaum noch an ihrer inhaltlichen Bedeutung interessiert ist, sondern vielmehr daran, ihre Klanglichkeit, ihren Rhythmus, ihren Ton zu zeigen. Thomas Bernhard hat in seinem Erstlingsroman Frost einen sehr eindrucksvollen Prosarhythmus zu hören gegeben:
Da also haben Sie deutlich das Aufgerissene, Aufgehackte. Da ist natürlich noch der Schrei, natürlich! Wenn Sie horchen, hören Sie noch den Schrei. Sie hören noch immer den Schrei, obwohl das Schreiwerkzeug tot ist, längst zerschnitten, zerhackt, auseinandergerissen. Das Stimmband ist schon geschlachtet, aber der Schrei ist noch da! Ein ungeheueres Phänomen ist die Feststellung, daß das Stimmband schon zerschlagen, zerhackt, zerschnitten ist, der Schrei aber noch da ist. Daß der Schrei immer da ist. Selbst wenn alle Stimmbänder zerhackt und zerschnitten sind, tot sind, alle Stimmbänder der Welt, alle Stimmbänder aller Welten, alle Vorstellungsmöglichkeiten, alle Stimmbänder aller Existenzen, ist immer der Schrei da, immer noch da, der Schrei ist nicht zu zerhacken, nicht zu zerschneiden, der Schrei ist das einzige Ewige, das einzige Unendliche, das einzig Unausrottbare, das einzige Immerwährende... (25)
Hier ist eine Qual der Sprache ausgestellt, die sich in zahlreichen Wiederholungen immer weiter multipliziert. Zugleich mit dem Gequältsein ist diese Sprache die Gewalt des Zerhackens selbst, so unbarmherzig malträtiert sie ihren Gegenstand und gibt das Zerhacken in einem eindrücklichen Prosarhythmus zu hören. Deutlich wird hier und in anderen Texten (vor allem auch in den schon genannten Duineser Elegien), dass die Sprache des Schmerzes in Thomas Bernhards Frost akustisch wahrzunehmen ist, nicht in erster Linie über ihr Bedeuten, sondern über ihren Klang: Sprache wird so selbst zum Instrument.
3. Dialogizität des Schmerzes
Habe ich oben von der Deixis der Schmerztexte gesprochen, so ist hier ein wichtiger Punkt zu ergänzen: Die deiktisch operierenden Texte weisen generell eine Dialogizität (26) auf: Das Zeigen des Schmerzes richtet sich an ein Gegenüber. Selbst im Philoktet wird der Schmerz erst dann zum Thema des Stückes, als Philoktet auf seiner Insel von Neoptolemos gesucht wird und dieser sich auf einen beispiellosen Dialog mit Philoktet einlässt und versucht zunächst einmal zu begreifen, dass Philoktet Schmerzen hat. Das ist genau die Situation, die Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen entworfen und so vielfältig durchdacht hat: Wie kann man sagen, dass der andere nicht nur Schmerzen habe, sondern auch, welcher Art seine Erfahrung des Schmerzes ist? Das ist die „black box“ aller Texte und es ist durchaus unterschiedlich, wieviel und welchen Einblick man in die „black box“ des Schmerztextes bekommt. Die Frage ist dann weniger, wie kann Schmerz aufhören, sondern sie lautet ganz anders, etwa mit Rilke in der Ersten Elegie: „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?“ Auch wenn bei Rilke diese verzweifelte Suche nach dem zuhörenden Gegenüber im Schmerz eine Suche nach Transzendenz mit einschließt, so ist dieser Ruf nach dem Gegenüber in einem Dialog doch für alle mir bekannten Schmerztexte gültig. Das gilt auch dort, wo es sich um nichtliterarische Texte handelt. In der Fallgeschichte Picking up the pieces von Fayek Nakhla und Grace Jackson, die ein Psychoanalytiker zusammen mit seiner Patientin schreibt, (27) die sic schwerste Selbstverletzungen zufügt, wird dies exemplarisch deutlich. Grace’ Selbstverletzungen führen ihren Schmerz in einer Weise vor, die ihr Gegenüber nicht übersehen kann. Grace zwingt ihren Psychoanalytiker dazu, sich zu dem in Übermaß gezeigten Schmerz zu verhalten. Ein Dialog entsteht so zunächst nicht, denn das „Wundentheater“ schließt lange Zeit jede Form von Diskursivierung aus. Die Selbstverletzungen schließen das Sprechen nicht ein, sie können es erst, als sie selbst als Sprache eines „fremden Selbst“ gedeutet werden können.
In anderen Texten bedeutet Dialogizität nicht, dass es tatsächlich ein Gegenüber gäbe. In Texten der Selbstbeobachtung, also etwa in den Essais von Montaigne oder auch Kafkas Tagebüchern, ist aber das eigene Ich der Dialogpartner. Dialogizität bedeutet nicht, dass der Dialog immer auch stattfindet, manchmal geschieht das gerade nicht. Auffällig ist aber, dass die Rede des Schmerzes sich dialogisch entwirft. Dialogizität ist das angestrebte Ziel der Schmerzrede, nicht in erster Linie die Schmerzlinderung.
4. Schmerz als Denkgrenze
Der Schmerz, der in vielen Schmerztexten zur Verhandlung steht, weist die Besonderheit auf, gleichzeitig mit der Grenze des Sagbaren, auch die Grenze des Denkbaren zur Diskussion zu stellen. Montaigne hat die „Formel“ ausgegeben, der die meisten Texte folgen, wenn er betont, das Denken im Schmerz sei so wie sonst, nur nicht mehr so zusammenhängend (Celan spricht, ganz ähnlich, vom „Denkschatten“). Wo Schmerz in ein Subjekt einsickert, kommt es zu Dissoziationen, zum Aufsprengen des Vernünftigen und Zusammenhängenden. Schmerz gebiert Abschweifungen, Zerlegungen, Abspaltungen und auch Zertrümmerungen des Sinns. Der Sinn ist noch da, aber er ist „zerlegt“, er wird unterbrochen von einem anderen „Sinn“ des Schmerzhaften. Nicht die Selbstbeobachtung hört dann auf, wenn der Schmerz immer stärker wird, sondern das, was an sich selbst beobachtend wahrgenommen wird, verändert sich.
In ihrer fundamentalen Kritik an Stiletts Übersetzung der Montaigneschen Essais (28) zeigt Karin Westerwelle, dass das Fragmentarische, Bruchstückhafte und eben auch Widersprüchliche in den Essais Montaignes keine nur stilistische Besonderheit darstellt, sondern den ästhetischen Prozess abbildet, der das Innere des schreibenden Montaigne zur Sprache werden lässt und gleichzeitig dieses Verwandeln in Sprache selbstkritisch in Frage stellt. Ist Schmerz ein Phänomen, dem die Vorsprachlichkeit zunächst zu eigen ist, (29) so wird an dem Punkt, wo er bei Montaigne Sprache wird, besonders deutlich, wie das geschieht: „nur nicht so zusammenhängend“ heißt es übersetzt bei Stilett und auch Lüthy (30), werde unter Schmerzbedingungen gedacht.
Der Schmerz, als möglicher Vorbote des Todes, problematisiert sein Zur-Sprache-Werden indem er die Konventionen der Sprache aufbricht, und das Sprechen über ihn problematisch werden lässt: So zeigt sich der Schmerz in den Essais Montaignes als Performanzsignal. Wo er als Bild hervortritt, markiert er die ästhetische Problematik seiner eigenen Verfasstheit und so auch die des ganzen Textes, immer aber dort, wo die Sprache als unzusammenhängend das Verständnis auf die Probe stellt.
Der Bruch, den der Schmerz bedeuten kann, betrifft auch den Text selbst: Er spricht nicht mehr so zusammenhängend, macht die Brüche des Schmerzes im Text selbst geltend, springt in seiner Aufmerksamkeit hin und her; die Texte schauen unter dem Eindruck des Schmerzes insbesondere auf das, was keinen vernünftigen Sinn mehr hat, auf das Unzusammenhängende, die Kleinigkeit und das unscheinbare Detail, nicht zuletzt auf die gestörte Körperlichkeit, das eigene Fremde. In besonderer Deutlichkeit zeigt sich das dort, wo der Text selbst die Verwundungen aufweist, von denen im Text die Rede ist. In Jean Pauls Roman Quintus Fixlein beispielsweise zeigt sich der Text als dissoziativ verfahrender, digressiver Text, der keinen kohärenten Erzählverlauf zulässt. Der Text unterbricht sich ständig selbst, zerteilt sich, und zeigt so eine schmerzhafte Diskontinuität. Viele der hier besprochenen Texte weisen eine ähnliche Struktur auf, in Kafkas Tagebüchern etwa ist es ein instabiles „Geflecht aus Narrheit und Schmerz“. Diese Struktur ist nicht festgefügt, aber es ist ausdrücklich auch der Schmerz (aber nicht nur, es ist auch die Narrheit!), der die heterogenen Aufzeichnungen zusammenhält, die jedoch vom Auseinanderfallen bedroht bleiben.
5. Auswege aus dem Schmerz
Die letzte Frage, die sich stellt, ist die nach den Auswegen aus dem Schmerz. Konfrontiert mit dem Schmerz hat der Text eine bestimmte „Aufgabe“ erhalten. Etwas, das so bedrängt wie er, wird im Text „virulent“. Der Schmerz fügt in den Text etwas ein, das eine besondere Dynamik bedingt: Strategien seiner Verhinderung sind gefordert (auch wenn manche Texte wie die Fallgeschichte Picking up the pieces, den Schmerz geradezu suchen). Immer wieder wird deutlich, dass der Schmerz nicht aufhören wird.
Kafka notiert in sein Tagebuch am 12.6.1923:
„12 VI 23 Die schrecklichen letzten Zeiten, unaufzählbar, fast ununterbrochen. [...] Spaziergänge, Nächte, Tage, für alles unfähig außer für Schmerzen.“ (31) Dieser Zwiespalt durchzieht Kafkas Tagebücher und wird von niemandem klarer erkannt als von Kafka selber, wenn er an anderer Stelle schreibt: „Die ungeheure Welt, die ich im Kopf habe. Aber wie mich befreien ohne sie zu zerreißen – Und tausendmal lieber zerreißen, als sie nur zurückhalten oder sie zu begraben. Dazu bin ich ja hier, das ist ganz klar.“ (32) In Kafkas Tagebüchern erfährt das ästhetische Schreiben eine äußerste Zuspitzung. Es gibt keinen Ausweg, keine Heilung, sondern nur das fortwährende Verletzen treibt das Schreiben voran. Die Verletzungen sind der Preis für ein Schreiben, das nur sich verwundend erfolgen kann und dann aber seine ganze schmerzhafte Schönheit preisgibt. Wer so schreibt, dem Schmerz in seiner Vitalität nachspürend (und ihn auch fürchtend) und zugleich ihn schreibend erst hervorbringt, tut immer zwei Dinge zugleich:
Man steht an der Wand schmerzhaft festgedrückt, senkt furchtsam den Blick, um die Hand zu sehn, die drückt und erkennt mit einem neuen Schmerz der den alten vergessen macht, die eigene verkrümmte Hand, die mit einer Kraft, die sie für gute Arbeit niemals hatte, dich hält. Man hebt den Kopf, fühlt wieder den ersten Schmerz, senkt wieder den Blick und hört mit diesem Auf und Ab nicht auf. (33)
Der gespürte Schmerz ist selbst zugefügt und er erweist sich hier als notwendig: Er ist ein Schmerz, der entsteht, weil das Ich sich selbst unter einer ungeheuren Kraftanstrengung hält. Dies beobachtend, schließlich auch aufschreibend, ist die Geste des Schreibens in Kafkas Tagebüchern: Ein Schmerz wird Sprache und lässt in seiner Artikulation einen neuen Schmerz entstehen – ein Perpetuum Mobile des Schmerzes ist so entstanden. Wie ein Motor des Schreibens zeigt sich Schmerz hier. Die Geste des Schreibens entsteht demnach dort, wo Schmerz sich in die Sprache begibt, sich in ihr ausbreitet und ebenso umgekehrt auch dort, wo Schreiben auf Gesten des schmerzenden Körpers trifft.
Es geht also nicht mehr darum, sich den Schmerz gelindert vorzustellen, sondern die besondere Herausforderung besteht darin, den Text so zu gestalten, dass Schmerz aushaltbar wird oder aber die Unaushaltbarkeit eines solchen Ausnahmezustandes zur Sprache bringt. Dort, wo Schmerz nicht verschwiegen wird, kann sich eine grundlegende Ataraxie im Text einstellen, die das Schmerzende anästhetisch einhüllt. Was heißt das? Eine bewusste Ausdruckslosigkeit, die die die Negativität des Schmerzes mit einschließt und nicht ausschließt, nimmt ihm seinen bedrängenden Charakter, auch wenn Ataraxie keine wirkliche Betäubung bedeutet. Sie hält das volle Bewusstsein des Schreckens, des Bösen, Abjekten und des Schmerzhaften wach und hält gleichzeitig am Absolutheitsgedanken der Kunst fest. Das Schmerzhafte ist spürbar vorhanden und doch bleibt die Kunst, konfrontiert zwar mit dieser unheilvollen Körperlichkeit, unangefochten. Die paradox erscheinende Bewegung, die sie dabei vollführt, ist die einer Sakralisierung des eigentlich Profanen. Das Profane erhält dabei keinen Sinn, auch der Schmerz nicht; seine tendenzielle Unabänderlichkeit wird nicht negiert, sondern immer reflektiert und erwogen. (34) Eine solche Kunst ist zum Äußersten, zum Herausgehen aus dem normalen in den Ausnahmezustand bereit, aber nicht pessimistisch gestimmt. Sie hat keine Empfindung als Grundlage, aber ihr Ziel bleibt die Algodizee im Sinne Nietzsches, die Peter Sloterdijk wie folgt darstellt:
„Algodizee heißt sinngebende metaphysische Interpretation des Schmerzes. Sie tritt in der Moderne an die Stelle der Theodizee, als deren Umkehrung. In dieser hieß es: wie sind das Böse, Schmerz, Leiden und Unrecht mit Gottes Dasein zu vereinbaren? Jetzt lautet die Frage: Wenn es keinen Gott und keinen höheren Sinnzusammenhang gibt, wie halten wir dann überhaupt den Schmerz noch aus?“ (35)
Ein Ausnahmezustand, der auf Dauer gestellt wird, war auch Agambens Analyse der Politik etwa der USA im Kontext von 9/11. (36) Hier ist etwas anderes gemeint, aber das Fortdauernde ist Kennzeichen auch des Schmerzes, so wie Nietzsche ihn wahrnimmt. Vielleicht bleibt dies noch Aufgabe der Kunst für lange Zeit: Vor dem Schrecken nicht zu erschrecken, sondern ihn zu bemerken, ihn zu sehen, zu hören und ihm Raum zu geben, damit er nicht plötzlich sirenenartig den Untergang herbeiführt. Es ist Kennzeichen einer solchen Kunst, dem Schmerz eingedenk zu sein, was kathartisch wirken kann, ohne dass das eine Sicherheit wäre. Jean Paul war sich sicher, dass „eine Bühnenwunde und -Träne erschüttert, bloß weil die Dichtkunst das Wort wieder rückwärts in die lebendige Gegenwart verwandelt.“ (37) Aus dieser Katharsis-Zuversicht resultierte seine Absicht im Quintus Fixlein, Schmerzen dort zu zeigen, damit man im wahren Leben auf das Zufügen von Schmerzen verzichten möge.
Dann gliche die Schmerzdarstellung im literarischen Feld einem Probehandeln, der Erprobung des Leides im Angesicht kommender Ausnahmezustände.
Anmerkungen:
6.8. Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive
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