TRANS Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 17. Nr. März 2010

Sektion 6.8. Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive
Sektionsleiter | Section Chair: Oliver Ruf (Universität Trier)

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Zerrissene Zeit. „Ragtime“ –

oder: Wie spricht man den Ausnahmezustand aus?

Oliver Kohns (Universität zu Köln) [BIO]

Email: okohns@gmx.de

 

Wie kann man den Ausnahmezustand aussprechen? Die folgenden Ausführungen versuchen zu belegen, dass der Ausnahmezustand nur ist, wenn er ausgesprochen wird: Er hat keine Existenz jenseits dieses Aussprechens. Dabei möchte ich die Doppeldeutigkeit des Wortes „aussprechen“ voll ausnutzen: Einerseits im Sinne von etwas Gegebenes (z.B. ein Wort) zur Sprache bringen (also im Sinn von „to pronounce“), andererseits etwas aussagen, was nur in dieser Aussage existiert (also im Sinne von „to declare“ oder „to call out“). Beide Aspekte von „aussprechen“ scheinen mir im Fall des Ausnahmezustands relevant zu sein, ich hoffe zeigen zu können, warum.

Meine Ausführungen teilen sich in drei Teile: Nach einer kurzen Einleitung in E.L. Doctorows Roman „Ragtime“ möchte ich ein paar eher „theoretische“ Überlegungen zum Konzept des Ausnahmezustands einschieben, um abschließend zu Doctorows Roman zurückzukehren. Dabei geht es ausdrücklich nicht darum, eine „Theorie“ zu entwickeln, die dann auf einen literarischen Text bloß „appliziert“ werden müßte. Wenn nämlich der Ausnahmezustand immer schon nur als Ausgesprochener exisitiert, dann muss vielmehr sowohl der „theoretische“ als auch der „literarische“ Diskurs gleichermaßen nach den Modi seiner Darstellung befragt werden.

 

I.

E.L. Doctorows Roman „Ragtime“ aus dem Jahr 1974 ist recht offenkundig ein „politischer“ Roman, auch wenn noch zu fragen sein, wird, was das eigentlich bedeuten kann. Immerhin: Den Anspruch, „politische“ Fiktion zu schreiben, zeigt Doctorows Roman von Beginn an. Im fünften Kapitel berichtet Doctorow von Freuds Besuch in New York, und der Besucher aus Wien zeigt sich wenig begeistert von dem, was er in der Neuen Welt sehen muss: Zu schlechtes Essen und zu wenig öffentliche Bedürftnisanstalten. Entsprechend deutlich fällt das Urteil des Psychoanalytikers aus: „He said to Ernest Jones, America is a mistake, a gigantic mistake.” (1) Amerika als ein einziger großer Irrtum: Damit ist die Marschrichtung des gesamten Romans vorgegeben. Auf den ersten Seiten zelibriert die Familie des Erzählers eine Normalität, die sich wesentlich aus dem Ideal ethnischer Homogenität speist („There were no Negroes. There were no immigrants(2)). Das Unheil scheint aber von Anfang an über den Handelnden zu schweben, auch wenn diese es noch nicht ahnen.

Ragtime ist ein Roman über den Ausnahmezustand, gewiss. Zur Erinnerung ein paar knappe Worte über den plot, dessen zweite Hälfte bekanntlich eine Neuinszenierung von Kleists Michael Kohlhaas im Amerika des frühen 20. Jahrhunderts darstellt. (3) Irgendwann in der Mitte des Buchs betritt der schwarze Jazzpianist Coalhouse Walker die Szenerie, dem sein Automobil, ein schwarzer Ford T, von Rassisten demoliert und zerstört wird. Coalhouse Walker fordert Entschädigung, die Justiz hilft ihm nicht, woraufhin er einen umfassenden Rachefeldzug beginnt. Walker erklärt die „rules of war“ (4) für gültig – was bedeutet: die zivilen Gesetze für ungültig – und ernennt sich selbst zum Präsidenten einer Provisorischen Amerikanischen Regierung; er sammelt eine Bande von Outlaws um sich und droht, die gesamte Stadt New York in die Luft zu jagen („I will destroy the entire city if need be“ (5)). Es folgt eine Anschlagsserie, Attentate, die Miliz marschiert auf, schwarze New Yorker sind außerhalb ihrer Viertel ihres Lebens nicht mehr sicher, wie Doctorow, in den Stil einer nüchternden Kriegsreportage wechselnd, mitteilt. (6) Schließlich befindet sich die gesamte Stadt, so sagt es jedenfalls der Erzähler, „truly in panic“: (7) Man könnte möglicherweise von Ausnahmezustand sprechen.

Wenn man diese Vorgänge, die ihr Ende erst mit dem Tod Coalhouse Walkers nehmen, als Ausnahmezustand beschreibt, dann stellt sich allerdings die Frage, in welchem Moment die Situation der Ausnahme beginnt. Nicht ohne Grund lässt Doctorows Roman keinen Zweifel daran, dass die Sicherheit und Ordnung, in der sich die Protagonisten zu Beginn des Romans zu leben meinen, von Anfang an höchst brüchig ist. „Every season of the year wagons came through the streets an picked up bodies of derelicts“, (8) heißt es lakonisch zu Beginn des dritten Kapitels. Welche Normalität können also die Handlungen des Coalhouse Walker zerstört haben, wenn diese Normalität von Anfang an das Aufsammeln liegengelassener Leichen beinhaltet? Möglicherweise ist Amerika für Doctorows Protagonist Sigmund Freud deshalb ein einziger Irrtum, weil die scheinbare Normalität dieses Landes tatsächlich immer schon ein Ausnahmezustand gewesen ist. Das Urteil könnte – zumal Doctorow es ausgerechnet dem Erfinder der Psychoanalyse in den Mund legt – aber auch in dem Sinn verstanden werden, dass jeder Glaube an so etwas wie einen friedlichen und gesetzlichen Normalzustand ein „gigantischer Irrtum“ sein muss, woraus zwingend folgt, dass die Ausnahme keine Ausnahme mehr ist.

Wo beginnt der Ausnahmezustand; wie wird er ausgesprochen?, das ist eine Frage, die sich nicht nur Doctorows Leser stellen werden. Die Antwort Carl Schmitts wäre wohl: Ausnahmezustand ist dann, wenn er entschieden ist, (9) der Souverän braucht keinen Grund und keine Begründung; sonst wäre er kein wirklicher Souverän. Aber auch in diesem Fall stellt sich die Frage, wie der Souverän den Ausnahmezustand aussprechen kann, ohne eine bestimmte Situation als gegeben zu erkennen (oder wenigstens als gegeben darzustellen). – Wie denkt die aktuelle Theorie des Ausnahmezustands und der Souveränität diese Frage?

 

II.

Der Begriff des Ausnahmezustands erscheint auf eine ganz eigene Weise in sich gespalten. Einerseits gibt es einen Ausnahmezustand nur dann – und nur dann –, wenn er von jemandem ausgerufen, postuliert, behauptet wird. Man braucht nur an Carl Schmitts Definition der Souveränität zu denken, um dies nachzuvollziehen: Die Macht, den Ausnahmezustand auszusagen, macht für Schmitt bekanntlich den Kern der souveränen Gewalt aus. Andererseits würde kein Souverän den Ausnahmezustand bestimmen, ohne ihn als gegeben zu sehen, d.h. eine Ausnahmesituation als tatsächlich existent zu erkennen (oder wenigstens auszusagen). Es gibt den Ausnahmezustand folglich nie „an sich“, ohne die Maßnahme seiner Ausrufung, weshalb es wohl naiv wäre, nach der „Darstellung“ eines unfraglich existenten Ausnahmezustands hier oder dort zu fragen. Allerdings wird er niemals ausgerufen, ohne als gegeben behauptet zu werden: Eine scheinbar paradoxe Verwicklung. Muss man deshalb davon ausgehen, dass es sich um zwei verschiedene Konzepte des Ausnahmezustands handelt? Gibt es neben dem von einem Souverän bestimmten Ausnahmezustand einen Ausnahmezustand „ohne Souverän“, der aber jenen sozusagen zu seiner Handlung provoziert? Tatsächlich lässt sich diese Grenze wohl nicht wirksam bestimmen, denn beide Zustände scheinen ineinander verschränkt: Jeder scheinbar neutral „beobachtete“ Ausnahmezustand wird notwendig von jemandem beobachtet (und also in gewisser Weise konstatiert), und umgekehrt beruft sich der Souverän bei der Ausrufung der Ausnahme notwendig auf die Gegebenheit der Situation.

Man kann diese Verschränkung, und zusätzlich auch die Dringlichkeit der Thematik, vielleicht am besten an einem Beispiel illustrieren. Der Kölner Professor für Staatsrecht Otto Depenheuer hat im Jahr 2007 ein schmales Buch mit dem Namen „Selbstbehauptung des Rechtsstaates“ veröffentlicht, welches sofort einige Beachtung gefunden hat, nicht zuletzt deshalb, weil der amtierende Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble es lobend erwähnte. (10) Dieser Umstand ist ein wenig beunruhigend, schließlich beruft sich Depenheuer in seinem Buch auf Carl Schmitt, (11) um dem demokratischen Rechtsstaat eine sträfliche Vernachlässigung der Kategorie des Ernstfalls vorzuwerfen. Depenheuer reagiert auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, welches den Abschuss entführter Flugzeuge verboten hat, und urteilt, hier werde „der Ausnahmezustand verdrängt.“ (12) Dagegen fordert Depenheuer einen „Willen zur Selbstbehauptung des freiheitlichen Rechtsstaates“ (13) ein, welches wohl „in letzter Konsequenz“ auch das Recht einschließen muss, „unschuldige Menschen“ – nämlich die Passagiere eines entführten Flugzeugs – zu „opfern“. (14) Depenheuer weiß jedoch, dass sich mit diesem „Willen zur Selbstbehauptung“ nicht nur der Abschuss von Flugzeugen rechtfertigen lässt, sondern dass damit der gesamte Katalog der bürgerlichen Rechte – bis zum Recht, nicht getötet zu werden – aufgehoben werden kann.

Der politische Zustand sei, so Depenheuer, von „der Realität eines weltweiten Bürgerkriegs“ (15) geprägt, der islamistische Terrorist sei „latent überall und immer da.“ (16) Aus diesem Grund kann der von ihm deklarierte Ausnahmezustand auch nicht mehr durch eine einmalige Dezision eines Souveräns erklärt werden. Wegen der latent omnipräsenten Gefahr kann die Ausnahme Depenheuer zufolge keine Ausnahme mehr sein, sondern muss permanent werden: „So ort- und zeitlos die terroristische Bedrohung, so permanent die Ausnahmelage. In der Konsequenz können Normal- und Ausnahmelage nicht mehr eindeutig voneinander abgegrenzt werden.“ (17) Als Konsequenz dieser Aussage können die Positionen des „konservativen“ Staatsrechtlers Depenheuer kaum mehr von denen des „linken“ Philosophen Giorgio Agamben abgegrenzt werden: „in der Analyse zutreffend“, (18) urteilt Depenheuer dementsprechend über Agambens Konzept eines universell ausgeweiteten Ausnahmezustands. (19) Man könnte hier einwenden, dass beide Autoren doch über verschiedene Begriffe des Ausnahmezustands sprechen: Agamben in eher kritischer Perspektive über den Ausnahmezustand als Produkt staatlicher Handlung, Depenheuer in eher affirmativer Perspektive über den Ausnahmezustand als das, was den Staat zur Handlung zwingt.

Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass sowohl Agamben als auch Depenheuer die setzende Gewalt des Souveräns in den Hintergrund rücken – zugunsten einer Struktur, die keine Wahl und keine Entscheidung zulässt. Dies ist bei beiden eine direkte Folge ihrer Diagnose eines ausufernden Ausnahmezustands. Für Depenheuer ist die Ausnahmesituation seit den Terroranschlägen des 11. September ohne die Möglichkeit eines vernünftigen Zweifels gegeben: Der Ausnahmezustand sei folglich keine Entscheidung mehr, sondern nur noch Erkenntnis. (20) Für Agamben bildet die Vermischung von Ausnahme und Normalität dagegen die Grundstruktur des Politischen überhaupt, (21) wodurch eine politische Entscheidung über die Ausnahme ebenso schwer zu denken wird wie ein Normalzustand ohne Ausnahmesituation. (22) Indem er die Struktur des Politischen apodiktisch als Gesetz des Ausnahmezustands setzt, ist es schließlich in gewisser Weise allein Agambens Text, der eine wirklich souveräne Entscheidung trifft (und vielleicht sein Leser, der ihm folgen kann oder auch nicht). (23)

Es gibt also innerhalb eines Denkens der Souveränität nicht zwei Begriffe des Ausnahmezustands, aber es zeigen sich zwei Facetten des Konzepts. Man kann im Vokabular der Sprechakttheorie zwei Sprechweisen unterscheiden: Es gibt einen scheinbar rein konstativen Sprechakt („Wir befinden uns im Ausnahmezustand“, „Der Ausnahmezustand ist gegeben“), der aber nur als performativer Sprechakt wirksam werden kann: „Ich entscheide / ich setze / ich bestimme, wir befinden uns im Ausnahmezustand“. In seiner fulminanten Lektüre der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung hat Jacques Derrida die Verdeckung performativer Rhetoriken durch konstative Aussagen als grundlegend – und tatsächlich konstitutiv – aufgezeigt: Das amerikanische Volk tritt in der Unabhängigkeitserklärung als ein „wir“ auf, das erst im Modus dieser Aussage überhaupt zu einem handelnden und sprechenden Subjekt wird. (24) Die gewaltsame Setzung eines Subjekts, die eine politische Institution wie einen Staat zuallererst hervorbringt, ist nicht gut oder schlecht: Vielmehr zeigt sich hier möglicherweise, wie Geoffrey Bennington anmerkt, eine Grundbedingung des Politischen. (25) Dass performative Sprechakte sich das Gewand konstativer Aussagen geben, ist dabei wohl grundsätzlich ein Teil des Spiels: Es gilt jedoch, dieses Spiel als solches zu erkennen und zu beschreiben. Nicht zuletzt in dieser Kompetenz mag ein Beitrag einer literaturtheoretisch informierten Kulturwissenschaft zur politischen Theorie der Gegenwart liegen.

 

III.

Mit diesen Überlegungen können wir zu Doctorows Roman Ragtime zurückkehren. Der Roman wird durch das Auftreten des schwarzen Musikers Coalhouse Walker (im 21. von 40 Kapiteln) in zwei Teile geteilt: Was aber ändert sich wirklich durch Walkers Rachefeldzug? Man könnte zunächst denken, Doctorows Roman entwickle sich erst durch die Handlung um den rassistischen Übergriff gegen den Musiker und den anschließenden Gewaltexzeß zu so etwas wie „politischer“ Fiktion. Diese Annahme ist jedoch offenkundig falsch, denn von Anfang an kreist die Handlung des Romans, auch in der eher lockeren Szenenfolge der ersten Hälfte des Romans, immer wieder um die Brüchigkeit dessen, was die Protagonisten ihre „Normalität“ nennen. Der Angriff auf Coalhouse Walker und seine Rache verändern dennoch die politische Situation. Man kann sagen, dass erst diese Vorgänge eine politische Situation herstellen, indem sie die Menschen dazu bringen, sich über ihre Zugehörigkeit zu dieser Seite zu bestimmen.

Von vornherein steht die Zugehörigkeit zu einer Gruppe im Vordergrund der Handlung: Diese soll erkannt oder zumindest hergestellt werden (eine weitere Ambivalenz zwischen dem Konstativen und dem Performativen). An diesem Ziel arbeiten im Roman wesentlich zwei diskursive Formen: der marxistische Diskurs der Klassenzugehörigkeit und der rassistische Diskurs der ethnischen Zugehörigkeit. Ersterer wird in Ragtime zuallererst durch die Revolutionärin Emma Goldman vertreten, die zwischen besitzenden und besitzlosen Klassen unterscheidet und ihre Hoffnung auf ein differenzloses telos setzt. So heißt es aus der Perspektive der Protagonistin Evelyn Nesbit: „For this bitter insight she had only Goldman to thank, who had painted her two pictures, one of greed and barbarity, starvation, injustice and death, as in the present national organizations of private capital, and the other of utopian serenity, as in the loose ungoverned combinations of equals sharing their work and their wealth sensibly with one another.“ (26)

Der andere Diskurs politischer Zugehörigkeit, derjenige des Rassismus, ist im Roman (wie möglicherweise auch in der politischen Wirklichkeit Amerikas (27)) breiter repräsentiert. Ein Vertreter dieses Diskurses im Roman ist etwa der „reformer“ (28) Jacob Riis, welcher die Zuordnung der verschiedenen ethnischen Gruppen zu Wohnvierteln untersucht – und das Ergebnis seiner Untersuchung für puren Wahnsinn hält, beunruhigenden Wahnsinn:

Riis made color maps of Manhattans’s ethnic populations. Dull gray was for Jews – their favorite color, he said. Red was for the swarthy Italian. Blue for the thrifty German. Black for the African. Green for the Irishman. And yellow for the cat-clean Chinaman, a cat also in his traits of cruel cunning and savage fury when aroused. Add dashes of color for Finns, Arabs, Greeks, and so on, and you have a crazy quilt, Riis cried, a crazy quilt of humanity!” (29)

Dieser Wahnsinn, den der Roman in seiner ersten Hälfte entfaltet, endet mit dem Übergriff auf Coalhouse Walker und dem Beginn seines Rachefeldzugs – und geht in einen gänzlich anderen Wahnsinn über. Will Conklin, der rassistische Chief der Feuerwehr, die den ganzen Vorfall erst ausgelöst hatte, fordert direkt nach Walkers erstem Drohbrief, „to go to the black neighborhood and clean all the niggers out once and for all.“ (30) Die gleiche Logik findet sich auch auf der Gegenseite: Die von Coalhouse engagierten outlaws verstehen sich als Repräsentanten aller Schwarzen: „Now we going to do something so terrible bad in this town, no one ever mess with a colored man for fear he belong to Coalhouse.“ (31) Tatsächlich jedoch, so berichtet es wiederum in nüchternem Ton der Erzähler, fürchten die Schwarzen schon bald um ihr Leben und betreten die Straßen nicht mehr. (32)

Erst durch diese Vorgänge wird, in der Welt des Romans, „Schwarz-Sein“ bzw. „Weiss-Sein“ zu einer politischen Kategorie. Die Unterscheidung zwischen „weißer“ und „schwarzer“ Haut wird zu einer politischen Differenzierung – und zugleich zu einer binären Differenz: Der von Jacob Riis noch besorgt konstatierte ethnische Flickenteppich reduziert sich damit buchstäblich auf Schwarz-Weiß. Damit bildet sich, wie man mit Carl Schmitt sagen kann, ein Gegensatz zwischen dem Freund und dem Feind heraus. Diese Differenz ist für Schmitt grundlegend für jede Herausbildung einer politischen Einheit, weil sie die Intensivierung politischer Gegensätze ermöglicht: „Der politische Gegensatz ist der intensivste und äußerste Gegensatz“, schreibt Schmitt, „und jede konkrete Gegensätzlichkeit ist um so politischer, je mehr sie sich dem äußersten Punkte, der Freund-Feindentscheidung, nähert.“ (33) In der Herstellung eines absoluten Gegensatzes, einer intensiven und extremen Situation trifft sich bei Schmitt das Denken der Feindschaft mit seinem Konzept von Ausnahmezustand und Souveränität: Es geht jeweils um die Konstruktion einer „blutigen Entscheidungsschlacht“, (34) einer Situation mit anderen Worten, die keine Neutralität, kein Zögern und vor allem keine Diskussion mehr ermöglicht, sondern konkreten politischen Einsatz notwendig macht. (35)

Daraus folgt zweierlei: Erstens stellt der sogenannte „Ausnahmezustand“ innerhalb dieser Logik nicht, wie man vielleicht denken könnte, eine Krise des Politischen dar. Im Gegenteil: Die Ausnahmesituation bringt eine Verschärfung der Gegensätze zu ihrer höchsten („äußersten“) Intensität hervor, die jede politische „Normalität“ erst ermöglicht. „Die Ausnahme ist die Regel“, kommentiert Derrida, „vielleicht es das, was dieses Denken der realen Möglichkeit uns zu verstehen geben will.“ (36) (Agamben scheint zu denken, er gehe über Schmitt hinaus, wenn er behauptet, der Ausnahmezustand sei in der Moderne zunehmend zur Normalität geworden, (37) aber dieses Argument bleibt vollständig innerhalb der Logik Schmitts.) Der Ausnahmezustand, wie Schmitt ihn konstruiert, ist keine für das politische System gefährliche Situation, sondern im Gegenteil dessen Kern – und darum ist er, streng besehen, alles andere als ein Ausnahmezustand. Er ist allenfalls die Fiktion eines Ausnahmezustands. Daraus folgt zweitens, dass die Gegensätze, die Schmitt zufolge die politische Ordnung konstituieren (der Gegensatz von „Freund“ und „Feind“), durch politisches (nicht notwendigerweise, aber auch durch staatliches) Handeln erst hervorgebracht werden. Der politische Diskurs bringt, mit anderen Worten, seine eigene Voraussetzung hervor. Carl Schmitt gibt sich einige Mühe, diese Ambivalenz zwischen konstativem und performativem Anteilen des politischen Diskurses zu verschleiern; man kann sie dennoch in seinen Texten am Werk sehen, beispielsweise, wie Derrida in seiner Analyse hervorhebt, am schillernden Begriff der „Vorhandenheit“ (welche eine simple empirische Gegebenheit suggerieren soll und doch gerade das nicht kann). (38) Indem die Ordnung des Politischen so seine eigene Voraussetzung kreiert – und dieses Hervorbringen als reines Gegebensein ausweist, ist es in eminentem Sinn fiktional. (39)

Beide Folgerungen werden auch in Doctorows Roman Ragtime in aller Klarheit lesbar. Erstens: Die an vielen Details sichtbare, verstärkte Bezugnahme auf das Politische im zweiten Teil des Romans – der Angriff auf Coalhouse Walker, die Anschläge, das Aufmarschieren der Milizen, das Auftreten verschiedener Politiker, der Eingriff der Polizei etc. – führt vor, dass das, was man als Ausnahmezustand im Sinne Schmitts beschreiben kann, tatsächlich alles andere als eine Krise des Politischen darstellt, sondern im Gegenteil dessen Instituierung. Zweitens: Die „blutigen“ Gegensätze, die das Politische dergestalt hervorbringen, sind Teil einer Fiktion des Politischen. Doctorow lässt keinen Zweifel daran, dass die Konstruktion des Politischen im oben beschriebenen Sinn nichts anderes ist als der Übergang von einer Fiktion – man könnte auch sagen: Lüge – zu einer anderen.

Die Hautfarbe ist von Beginn an – nicht nur, aber immer auch – Verkleidung, Maske, Täuschung. Die Täuschung über die vermeintliche ethnische Homogenität („There were no Negroes. There were no immigrants“ (40)) wird in dem Auftreten schwarz geschminkter Musiker („Ministrels“) personifiziert. (41) Diese Praxis, die wohl das bürgerliche Publikum vor der Sichtbarkeit ethnischer Differenzen verschonen sollte, findet ihre Parodie in der Figur des „Younger Brother“, der in der Gruppe um Coalhouse Walker „a career as an outlaw and revolutionary“ (42) beginnt. Der „jüngere Bruder“ bewirbt sich bei Walker mit seiner technischen Kompetenz („I can make bombs, he said. I know how to blow things up“ (43)) und verwandelt sich nach der Aufnahme in der Gruppe symbolisch in einen Schwarzen: „He shaved his blond moustache and he shaved his head. He blackened his face and hands with burnt cork, outlined exaggerated lips, put on a derby and rolled his eyes.“ (44) Die ethnische Zugehörigkeit, das zumindest wird hier deutlich, ist keine vorpolitische Kategorie, die irgendwann vom Politischen eingeholt würde: Sie ist von vornherein politisch, und das heißt: Sie hat von vornherein eine fiktionale Dimension.

Das, was Schmitt als „Ausnahmezustand“ beschreibt, ist demnach alles andere als ein solcher. Die öffentliche Unruhe im Gefolge der Anschläge Coalhouse Walkers ist kein Ausnahmezustand, weil er politische Handlungen und also Normalität erst hervorbringt. Alles, was hier möglicherweise als Ausnahmezustand begriffen werden kann, folgt einer Logik der Repräsentation politischer Mächte und Gruppen. Wenn es also so etwas wie einen wirklichen Ausnahmezustand geben soll – von der „Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands“ spricht Walter Benjamin in seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte mit kritischem Blick auf Carl Schmitt (45) –, dann müßte dieser Ausnahmezustand die Logik der politischen Repräsentationen aussetzen, statt sie zu stabilisieren. Er müßte, mit anderen Worten, eine tatsächliche Ausnahme von der politischen Logik darstellen.

Ein solcher Ausnahmezustand müßte folglich eine reine Suspension des Gesetzes darstellen, ohne zugleich ein neues Gesetz (des Notstands) zu intituieren. Als Coalhouse Walker, wie viele Male zuvor, mit seinem schwarzen Ford T an der Emerald-Isle-Feuerwehr in Manhattan vorbeifährt und von den Feuerwehrleuten, die kein Auto besitzen und nicht ertragen können, dass ausgerechnet ein Schwarzer eines besitzt, zur Zahlung eines Wegezolls aufgefordert wird, weigert sich dieser und zweifelt das Recht dieser Forderung an. Der Chief der Wache erklärt Walker: „He was courteous to Coalhouse and explained that while the toll had never before been collected from him it was nevertheless in force, and that if Coalhouse did not pay up he would not pass.” (46) – Diese Aussage spricht die Aufhebung des Gesetzes ohne die Wiedererrichtung eines neuen Gesetzes aus: Es besagt lediglich, dass das Gesetz nicht gilt, und also, dass das Gesetz kein Gesetz ist, sondern reine Willkür und Gewalt. Dies wird von Coalhouse auch so interpretiert (er gibt der Forderung nicht nach) und von der herannahenden Gesetzesmacht bestätigt (der dazutretende Polizist nimmt den Schwarzen fest, nicht die gesetzlosen Feuerwehrmänner). In dieser Situation tritt, mit anderen Worten, die von Foucault als spezifisch angelsächsisch bezeichnete Erfahrung zutage, dass die Gesetze nicht der Gerechtigkeit dienen, sondern ein reines Machtinstrument darstellen. (47) Wenn hier ein Ausnahmezustand ausgesprochen wird, dann keiner, der eine politische Ordnung hervorruft. Den Wegezoll hat es noch nie gegeben, aber er sei dennoch „in force“: Hier wird, anders als in Walkers späteren Pamphleten, keine Souveränität ausgerufen, sondern die Illegitimität souveräner Herrschaft (auch und gerade der eigenen) offen ausgesprochen.

Es gibt, so kann man schließen, vielleicht tatsächlich mehrere Konzepte des Ausnahmezustands. Wenn man den Ausnahmezustand tatsächlich anders als Schmitt und Agamben nicht als Instituierung politischer Ordnung begreifen will, sondern als eine reine Aussetzung des Rechts, dann gilt es auf diese Momente zu achten, in denen ein bestimmtes Gesetz der Gesetzlosigkeit ausgesprochen wird.

 


Anmerkungen:

1 E. L. Doctorow: Ragtime [1974]. London u.a.: Penguin 2006, S. 32.
2 Ebd., S. 4f.
3 Vgl. dazu Christian Moraru: The reincarnated Plot: E.L. Doctorow’s Ragtime, Heinrich von Kleist’s „Michael Kohlhaas“, and the Spectacle of Modernity. In: The Comparatist 21 (1997), S. 92-116.
4 Doctorow: Ragtime (wie Anm. 1), S. 187.
5 Ebd., S. 177.
6 Vgl. ebd., S. 186: „Militia patrolled the streets. There were several instances of abuse of Negroes who were seen out of their neighborhoods.“; ebd., S. 201: „No concessions had been made and the streets bristled with military and paramilitary deployments.”
7 Ebd., S. 186.
8 Ebd., S. 13f.
9 Vgl. Carl Schmitt: Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität [1922]. 7. Aufl. Berlin: Duncker & Humblot 1996, S. 13: „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“
10 Vgl. Gunter Hofmann: Schäubles Nachtlektüre. In: Die Zeit Nr. 33, 09. 08. 2007, S. 7.
11 Vgl. Otto Depenheuer: Selbstbehauptung des Rechtsstaates. Paderborn u.a.: Schöningh 2007, S. 20 und passim.
12 Ebd., S. 29.
13 Ebd., S. 31.
14 Ebd., S. 32.
15 Ebd., S. 11.
16 Ebd., S. 46.
17 Ebd., S. 51.
18 Ebd., S. 113, FN 62.
19 Vgl. Giorgio Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben [1995]. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2002 (edition suhrkamp. 2068), S. 48: „Der ‚rechtsleere Raum’ des Ausnahmezustandes [...] hat seine raumzeitlichen Grenzen durchbrochen und, indem er sich über sie ergießt, droht er nunmehr überall mit der normalen Ordnung zusammenzufallen, in der von neuem alles möglich wird.“ Vgl. Giorgio Agamben: Ausnahmezustand (Homo sacer II. 1). Übers. von Ulrich Müller-Schöll. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2004 (edition suhrkamp. 2366), S. 9: „Angesichts der unaufhaltsamen Steigerung dessen, was als ‚weltweiter’ Bürgerkrieg bestimmt worden ist, erweist sich der Ausnahmezustand in der Politik der Gegenwart immer mehr als das herrschende Paradigma des Regierens.“
20 Nur en passant deutet Depenheuer an, dass es sich hier um eine Entscheidung handeln muss, die er aber als „zutreffend“ augenblicklich wieder dem Feld des Epistemologischen zuweist: „Der Terror ist die totale Infragestellung der eigenen politischen Existenzform [...]. Diese Botschaft des Terrorismus sofort zutreffend erkannt zu haben, darin liegt ein epochales Verdienst der westlichen Staatengemeinschaft unmittelbar nach dem 11. September. Der Angriff wurde als kriegerischer Akt (‚Krieg gegen den Terror’) qualifiziert, die NATO erklärte den Bündnisfall und die UNO hielt das Recht auf Selbstverteidigung nach Art. 51 SVN für gegeben“ (Depenheuer: Selbstbehauptung des Rechtsstaates [wie Anm. 11], S. 48; Hervorhebung von mir, O. K.). Vgl. dagegen Friedrich Balke im Anschluss an Jacques Derrida: „Derrida ist zwar [?] zuzustimmen, wenn er gegen die Rhetorik der rogue states darauf beharrt, dass es nicht Staaten gibt und dann noch Schurkenstaaten, sondern dass es nur Schurkenstaaten gibt, ausnahmslos, insofern eben die Entscheidung über den Ausnahmefall die Bedingung der Möglichkeit souveräner Staaten ist [...]. Der Gipfel der Schurkerei ist aus dieser Sicht dann erreicht, wenn sich ein Staat seinen Willen zur souveränen, unilateralen und damit unrechtmäßigen Aktion durch die mit der Wahrung des Völkerrechts beauftragte Institution der Vereinten Nationen bestätigen läßt“ (Friedrich Balke: Restating Sovereignty. In: Freund, Feind & Verrat. Das politische Feld der Medien. Hrsg. von Cornelia Epping-Jäger, Torsten Hahn und Erhard Schüttpelz. Köln: DuMont 2004, S. 13-37, hier: S. 34).
21 Vgl. Agamben: Homo sacer (wie Anm. 19), S. 39: „Wenn die Ausnahme die Struktur der Souveränität ist, dann ist die Souveränität weder ein ausschließlich politischer noch ein ausschließlich juristischer Begriff [...]: Sie ist die originäre Form, in der sich das Gesetz auf das Leben bezieht und es durch die eigene Aufhebung in sich einschließt.“
22 Vgl. Bettine Menke: Die Zonen der Ausnahme. Giorgio Agambens Umschrift ‚Politischer Theologie’. In: Politische Theologie. Formen und Funktionen im 20. Jahrhundert. Hrsg. von Jürgen Brokoff und Jürgen Fohrmann. Paderborn u.a.: Schöningh 2003, S. 131-152, hier: S. 135: „Eine Emphase der Entscheidung ist dann aber sowenig zu halten, wie die des Souveräns, der sich als Subjekt der Entscheidung konstituierte und der dieser doch als deren Träger und Grund (ihrer Möglichkeit) schon vorauszugehen hätte“.
23 Vgl. Andrew Norris: Die exemplarische Ausnahme: Philosophische und politische Entscheidungen in Giorgio Agambens Homo sacer. In: Urteilen/Entscheiden. Hrsg. von Cornelia Vismann und Thomas Weitin. München: Fink 2006, S. 254-268, hier: S. 265.
24 Vgl. Jacques Derrida: Otobiographien – Die Lehre Nietzsches und die Politik des Eigennamens [1980]. In: ders. / Friedrich Kittler: Nietzsche – Politik des Eigennamens. Wie man abschafft, wovon man spricht. Berlin: Merve 2000, S. 7-63, hier: S. 15f.; vgl. auch die entsprechende Figur in Derridas Lektüre von Carl Schmitts „Begriff des Politischen“: Jacques Derrida: Politik der Freundschaft. Übers. von Stefan Lorenzer. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2000, S. 165f.
25 Vgl. Geoffrey Bennington: Derrida and Politics. In: Jacques Derrida and the Humanities. A Critical Reader. Hrsg. von Tom Cohen. Cambridge: Cambridge University Press 2001, S. 193-212, hier: S. 204f.: „The chance of politics is given by this founding impossibility at the moment of institution of the institution, which also means that institutions are essentialy historical and never entirely stabilized, haunted by the coup de force that institutes them“.
26 Doctorow: Ragtime (wie Anm. 1), S. 74.
27 „Das amerikanische Volk war ganz einfach vier Jahrhunderte lang von der Frage besessen, welche Hautfarbe jemand hat“ (Kenneth T. Jackson: Eine Besichtigung des amerikanischen Traums. In: Defining America. Führende amerikanische Intellektuelle erklären den Charakter ihrer Nation. Hrsg. von David Halberstam. Hamburg: National Geographic 2004, S. 131-137, hier: S. 134).
28 Doctorow: Ragtime (wie Anm. 1), S. 15.
29 Ebd., S. 15f.
30 Ebd., S. 183.
31 Ebd., S. 207.
32 Ebd., S. 186f.
33 Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. 7. Aufl. Berlin: Duncker & Humblot 2002, S. 30.
34 Schmitt: Politische Theologie (wie Anm. 9), S. 63.
35 Vgl. Heiko Christians: Über den Schmerz. Eine Untersuchung von Gemeinplätzen. Berlin: Akademie 1999, S. 54: „Die ‚energische Leidenschaft’ oder Intensität der Ausnahme gegenüber der Regel bringt für dieses Denken eine (hierarchische) Ordnung, einen Haltepunkt (ein Katechon) in die eine ‚ewige’ und ‚ziellose’ Bewegung geratene Masse der Ideen, Argumente, Worte, Buchstaben. [...] Der entsprechende (gefährdete) Oberbegriff – das Politische, das Volk oder die Souveränität – regeneriert sich dabei in der Orientierung an der (behaupteten) Substanz der bevorzugten Ausnahme-Komponente, die nicht mehr mit dem Oberbegriff identisch ist“.
36 Derrida: Politik der Freundschaft (wie Anm. 24), S. 181.
37 Zumindest behauptet Agamben, dies sei „seine“ These: „Eine der Thesen dieser Untersuchung ist die, daß gerade der Ausnahmezustand als fundamentale politische Struktur in unserer Zeit immer mehr in den Vordergrund rückt und letztlich zur Regel zu werden droht“ (Agamben: Homo sacer [wie Anm. 19], S. 30). Diese These Agambens ist allerdings nur scheinbar historisch, da sie notwendigerweise aus der begrifflichen Axiomatik Carl Schmitts hervorgeht, der sich Agamben in allen wesentlichen Punkten anschließt.
38 Derrida: Politik der Freundschaft (wie Anm. 24), S. 186f.
39 Die These einer grundsätzlichen Fiktionalität des Politischen hat neuerdings Eva Horn vertreten. Vgl. Eva Horn: Der geheime Krieg. Verrat, Spionage und moderne Fiktion. Frankfurt am Main: Fischer Tb 2007, S. 35: „Fiktionen sind mehr als enkryptierte, ins scheinbar spielerisch Erfundene transponierte Politik. Vielmehr legen sie die Fiktionalität des Politischen selbst frei. Denn wenn moderne Staaten und moderne Kriege unweigerlich angewiesen sind auf eine Dimension des Geheimen, der Täuschung und Tarnung, dann sind sie immer schon involviert in Narrative der Plausibilisierung und Legitimierung [...]. Politik ist eine Fiktion in dem Sinne, dass ihre Verlautbarungen und Legitimationen, ihre Selbstpräsentationen und -verortungen immer nur die eine präsentable Variante unter mehreren plausiblen, ebenso möglichen aber vielleicht nicht so opportunen Versionen eines Geschehens ist.“ – Horn denkt m.E. die Fiktionalität des Politischen nicht grundsätzlich genug: Diese spielt sich nicht nur auf der Ebene der legitimatorischen Diskurse ab. „Zwar lebt das Politische von Evidenzen, von offen zu Tage liegenden Freund-Feind-Verhältnissen, aber es operiert gerade im Unterlaufen dieser Evidenzen“ (ebd.), schreibt Horn weiter: Aber gerade diese scheinbar fraglose Evidenz, dieses scheinbar „offen zu Tage-Liegen“ ist infrage zu stellen – und gerade hier kann mit einer kritischen Lektüre Schmitts möglicherweise die eigentliche Fiktionalität des Politischen erkannt werden.
40 Doctorow: Ragtime (wie Anm. 1), S. 4f.
41 „Ministrels performed in blackface“ (Ebd., S. 35). Von hier aus ist es nicht ohne Bedeutung, dass Coalhouse Walker ein Musiker ist: Die Praxis der schwarz geschminkten „Ministrels“ erlaubt es den echten Schwarzen noch nicht einmal, als ernsthafte Musiker wahrgenommen zu werden. So berichtet Doctorows Erzähler über ein Gespräch zwischen Walker und seinem Vater: „Father was not knowledgeable in music. His taste ran to Carrie Jacobs Bond. He thought Negro music had to have smiling and cakewalking. Do you know any coon songs? he said. He did not intend to be rude – coon songs was what they were called. But the pianist responded with a tense shake of the head. Coon songs are made for ministrel shows, he said. White men sing them in blackface” (ebd., S. 133).
42 Ebd., S. 205.
43 Ebd.
44 Ebd.
45 „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns darüber, daß der ‚Ausnahmezustand’, in dem wir leben, die Regel ist. Wir müssen zu einem Begriff der Geschichte kommen, der dem entspricht. Dann wird uns als unsere Aufgabe die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands vor Augen stehen; und dadurch wird unsere Position im Kampf gegen den Faschismus sich verbessern“ (Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte. In: ders.: Illuminationen. Ausgewählte Schriften 1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1977, S. 251-263, hier: S. 254f.). Vgl. Werner Hamacher: Afformativ, Streik. In: Was heißt „Darstellen“? Hrsg. von Christiaan L. Hart Nibbrig. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994 (edition suhrkamp. 1696), S. 340-371, hier: S. 367: „Es sollte also klar sein, daß der Streik, von dem Benjamin in seiner Schrift [d.i. „Zur Kritik der Gewalt“, O.K.] handelt, wenig zu schaffen hat mit jenem Ausnahmezustand, den er in der politischen Theorie Carl Schmitts darstellt. Streik ist für Benjamin kein Ausnahmezustand, nicht die Ausnahme von einer protektionsbedürftigen Regel des staatlichen Gewaltmonopols, sondern die Ausnahme von jedem System, das noch mit den politischen Oppositionsbegriffen von Rechtsnorm und Ausnahmezustand operieren kann. Mit gutem Grund hat denn auch Benjamin zwanzig Jahre nach der Gewalt-Kritik, in seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte, mit deutlicher Spitze gegen Schmitt ‚die Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands’ gefordert.
46 Doctorow: Ragtime (wie Anm. 1), S. 146.
47 Vgl. Michel Foucault: In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France (1975-76). Übers. von Michaela Ott. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1999, S. 126f.

6.8. Ausnahmezustände in der Literatur aus wissensgeschichtlicher Perspektive

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For quotation purposes:
Oliver Kohns: Zerrissene Zeit. „Ragtime“ – oder: Wie spricht man den Ausnahmezustand aus? - In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 17/2008. WWW: http://www.inst.at/trans/17Nr/6-8/6-8_kohns17.htm

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