Trans Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften 16. Nr. Juni 2006
 

9.1. Erneuerung der literarischen Tradition durch neue Medien
Herausgeber | Editor | Éditeur: Naoji Kimura (Regensburg/Tokio)

Dokumentation | Documentation | Documentation


High Art, Low Culture: Stanley Kubricks Eyes Wide Shut (1999) als Grenzphänomen zwischen Hoch- und Alltagskultur

Corina Caduff [BIO], Sabine Gebhardt Fink [BIO], Florian Keller [BIO], Steffen Schmidt [BIO] (Zürich)

 

Die Problematik von high and low culture, von Hochkultur und Alltagskultur, ist in den verschiedenen Künsten zu verschiedenen Zeiten virulent geworden. In der Musik hat die Musikindustrie um 1900 eine offizielle Scheidung zwischen dem U- und E-Bereich vollzogen. In den visuellen Künsten hat man den Einfluss der low culture bereits um 1850 als Gefahr debattiert, bevor ihr Einbezug im 20. Jahrhundert geradezu konstitutiv wurde für ein neues Kunstverständnis (Warhol, Beuys u.a.). In der Literatur hat sich die Trennung von Unterhaltungs- und Hochliteratur im 18. Jahrhundert etabliert.

Nachträglich und rückblickend lassen sich in der Geschichte der Künste mannigfache Verhältnisse zwischen high and low neu rekonstruieren. Dabei wären insbesondere die wechselseitigen Übergänge zu beleuchten: Durch welche Umwertungsverfahren wird eine "niedere" Kunst in high art transformiert, und wie wird etwas, das heute der Hochkultur zugewiesen wird, morgen schon zum Kultobjekt der Alltags- und Massenkultur? Dieses Zusammen- und Verwandlungsspiel von high and low untersuchen wir in der Folge am Beipiel von Stanley Kubricks Eyes Wide Shut (1999). Der Film basiert auf einer Novelle Schnitzlers, er verwendet Musik von Schostakowitsch, Liszt und Ligeti sowie Popmusik, wobei er die Differenz zwischen musikalischem U- und E-Bereich inhaltlich sehr präzise geltend macht; ebenso zitiert der Film die klassische Bildwelt, angefangen bei der Venusfigur über Künstler wie Modigliani bis hin zu Ingres, und entwirft im Zuge solcher Zitate eine Bildwelt, die richtiggehend zwischen high und low schlingert. Wie kaum ein anderes Beispiel dialogisiert der Film Eyes Wide Shut gleichzeitig mit Musik, Kunst und Literatur, und wie kaum ein anderes Beispiel aus dem zeitgenössischen Kino operiert er dabei anhaltend und äusserst dezidiert auf der Grenzlinie zwischen high and low. Der dem Film zugeschriebene Status als high art scheint, auch wenn das bislang noch kaum deutlich herausgearbeitet worden ist, genau in diesen Bewegungen im Dazwischen zu gründen.

Dieser Lektüre von Eyes Wide Shut ist allerdings vorauszuschicken, dass das Kino für die Frage nach high and low in den Künsten zweifellos einen Sonderfall darstellt. Dieser besondere Status hat vor allen Dingen mit den Ursprüngen des Mediums Film zu tun; seine Anfänge in den Schaubuden der Jahrmärkte verfolgen zumal das Erzählkino bis heute, anders als in Literatur, Musik und in den visuellen Künsten hat sich für die industrielle Massenkunst Kino deshalb nie eine ähnlich fundamentale Hierarchisierung zwischen high und low etabliert, wie das in der Musik, der Literatur und den visuellen Künsten der Fall war. Zwar haben auch hier immer wieder Umwertungsbewegungen stattgefunden, wenn beispielsweise die Cahiers du Cinéma das bis dahin als unkünstlerisch geltende amerikanische Genrekino als Autorenkino aufwerteten. Aber wenn Siegfried Kracauer in seinem berühmten Essay zum Kult der Zerstreuung (1926) die grossen Berliner Lichtspielhäuser seiner Zeit als Zerstreuungspaläste umschrieb, so hat er damit eine Anschauung geprägt, die im Sinne einer kulturellen Werthierarchie bis in die Gegenwart nachwirkt. Abgesehen vom Genre des Experimentalfilms, das in der Regel eher in einem Kunstkontext stattfindet, wird Kino (und namentlich das Kino in der dominanten Tradition von Hollywood) nach wie vor in erster Linie als Entertainment rezipiert - als industriell gefertigte Zerstreuung für die Massen. Nur in Einzelfällen jedenfalls würde man Filme, die auf den Leinwänden der Zerstreuungspaläste unserer Zeit gezeigt werden, als high art bezeichnen.

Der besondere Status des Kinos als einem Phänomen der low culture lässt sich an drei grundlegenden Aspekten festmachen. Die erste Dimension betrifft die Architektur der klassischen "Kino-Theater", die in den letzten Jahren allerdings zusehends verdrängt wurden von funktionelleren Multiplexen nach US-amerikanischem Vorbild. Die unverhohlene Anlehnung der traditionellen Kinoarchitektur an den Prunk der Opernhäuser und ans Theater (Logenplätze, Vorhang vor der Leinwand etc.) ist allerdings immer unter zweierlei Gesichtspunkten zu sehen: Einerseits ist eine solche Raumgestaltung als Weiterführung der Filmherkunft im Variété zu verstehen, z.B. ist der Vorhang vor der Leinwand ein historischer Restbestand, in dem die Anfänge des Kinos als Jahrmarkt-Attraktion sichtbar bleiben; anderseits aber betreiben die Kinopaläste in ihrer Innenarchitektur gleichsam eine Mimikry der Stätten der bürgerlichen Hochkultur, d.h. durch ihre (zumindest dem Anschein nach) prunkvolle Ausstattung verwischen die klassischen Kino-Theater gerade jene Vergangenheit des Films in der "billigen" Kleinkunst der Jahrmärkte. So manifestiert sich schon in den räumlichen Rahmenbedingungen ein Spannungsfeld zwischen dem Film als industriellem Massenprodukt und den architektonischen Chiffren der Hochkultur.(1)

Die zweite, dem Film als Medium immanente Dimension, die das Kino im Kontext von high und low zu einem Sonderfall macht, ist ein Aspekt, auf den am Deutlichsten Gilles Deleuze in seinem Kino-Buch hingewiesen hat. Was den Film als industrielle Kunst auszeichne, so schreibt Deleuze in einer thesenhaften Zuspitzung einer Bemerkung von Federico Fellini, "ist keineswegs die mechanische Reproduktion, sondern die innerlich gewordene Beziehung zum Geld".(2) In keiner anderen Kunst hat die Frage des Geldes so unmittelbare Auswirkungen darauf, was im Werk selber möglich ist, wie im Kino, und das hat Konsequenzen auch für die Frage nach kulturellen Werthierarchien. Vor diesem Hintergrund hat sich im US-Kino schon früh der Begriff B-Picture (oder B-Movie) eingebürgert, der für Filme verwendet wird, die schnell, mit geringem Budget und mit meist zweitklassigen Schauspielern gedreht werden und deren Plots in der Regel einer formelhaften Dramaturgie gehorchen. Allerdings bezeichnet diese Kategorie nicht allein die Tatsache, dass es sich bei den betreffenden Filmen um kostengünstige Produktionen handelt, sondern mitgemeint war von Anfang an auch die Zugehörigkeit dieser B-Pictures zu einer "niederen", minderwertigen Form des Kinos, und zwar sowohl hinsichtlich der Themen wie auch der filmischen Ästhetik.(3) Anders als in der Literatur, wo Fragen nach den Werkbudgets für eine Differenzierung zwischen Trivial- und Hochliteratur unerheblich sind, spielt also das Geld im Kino von Anfang an eine Rolle für die Zuordnung zu high oder low. Analog jedoch zur Literaturwissenschaft, die sich im Zuge der kulturwissenschaftlichen Ausrichtung auch verstärkt mit Trivialliteratur beschäftigt, anerkennt heute auch die Filmwissenschaft das B-Movie als Gegenstand der Forschung, womit sie das Genre auch ein Stück weit rehabilitiert.

Der dritte Aspekt, der den Film in der Frage nach high and low zum Sonderfall macht, besteht in der Tatsache, dass das Kino als industrielle Kunst das Konzept einer individuellen Autorschaft fundamental in Frage stellt, wenn nicht sogar obsolet macht. Sowohl in der Literatur wie auch in der Musik und in den visuellen Künsten ist die Etablierung der Differenz zwischen high art und low culture an den Mythos eines auktorialen Subjekts geknüpft, das in seinem Schaffen in keiner Weise den Produktions- und Rezeptionszwängen einer Kulturindustrie unterworfen ist. Im Kino dagegen ist der Autor immer schon insofern abgeschafft, als die industriellen Produktionsbedingungen eine vergleichbare Bündelung der künstlerischen Verantwortung in den allermeisten Fällen schlicht verunmöglichen.(4)

 

Cross the Border: Stanley Kubrick und seine literarischen Vorlagen

Es ist längst ein Gemeinplatz, dass Stanley Kubrick (1928-1999) seit seinem eigentlichen Erstling The Killing (1956) mit jedem Film ein anderes filmisches Genre bearbeitet hat; und ebenso bekannt ist, dass er jeden seiner Stoffe aus einer literarischen Vorlage entwickelt hat. Ausser der Tatsache aber, dass sämtliche Texte, die er sich als Basis suchte, aus dem englisch-amerikani­schen Sprachraum stammen, ist das kulturelle Terrain dieser Vorlagen in jeder Hinsicht ebenso weitläufig wie disparat. Um diese Weitläufigkeit zu fassen, sollte man sich Kubricks Filmografie in ihrer historischen Abfolge kurz vor Augen führen. Beschränken wir uns dabei auf seine letzten sechs Filme und lassen wir die Namen der Autoren einstweilen aussen vor: 2001: A Space Odyssey (1968) basiert auf der Story eines populären Science-Fiction-Autors, A Clockwork Orange (1971) auf dem gleichnamigen Roman eines britischen Grossliteraten des 20. Jahrhunderts, Barry Lyndon (1975) auf einem Klassiker des englischen Realismus des 19. Jahrhunderts, The Shining (1980) auf einem Horrorroman eines Bestseller-Autors aus den USA, und Full Metal Jacket (1987) schliesslich auf dem autobiografischen Roman eines US-amerikanischen Vietnam-Veterans.

Das also ist die literarische Reihe, an deren Ende jene bürgerliche Novelle aus dem Wien des frühen 20. Jahrhunderts zu stehen kommt, die Kubrick zuletzt unter dem Titel Eyes Wide Shut (1999) ins Kino brachte; den Filmstart allerdings erlebte er selber nicht mehr. In dem genannten erzählerischen Repertoire zwischen Stephen King, William Makepeace Thackeray und dem Ex-Soldaten Gustav Hasford muss man die Traumnovelle (1925) sehen, wenn man den genauen Ort zu bestimmen versucht, den dieser Text von Arthur Schnitzler in der filmischen Topografie von Stanley Kubrick einnimmt: Es ist eine Filmografie, die sich nicht nur auf die verschiedensten Gattungen des Erzählens beruft, sondern die sich vor allen Dingen gleichermassen entschieden sowohl aus hochkulturell markierten Quellen speist wie auch aus der populären Bestsellerliteratur.

Wie kein anderer Filmemacher seiner Generation hat Kubrick im Umgang mit seinen Vorlagen resolut die überlieferten Grenzen zwischen Hoch- und Massenkultur durchquert. Mit anderen Worten: alle seine Filme verhandeln implizit immer auch jene Kluft zwischen high and low, zu deren Überbrückung Leslie A. Fiedler in seinem berühmten, erstmals 1969 im Playboy erschienenen Aufsatz Cross the Border - Close the Gap aufgerufen hatte.(5) Eine mögliche These könnte deshalb lauten, dass Kubricks Werk aus genau diesem Grund stets als dezidiert hochkulturell rezipiert wurde - und gerade Eyes Wide Shut liefert für diese These einen idealen Testfall, weil sich für diesen Film bekanntlich das kritische Urteil zum common sense verfestigt hat, wonach Kubrick mit seiner Schnitzler-Verfilmung eben nicht mehr ganz ‚auf der Höhe seines Schaffens’ gewesen sei.

Vordergründig ist Eyes Wide Shut zweifellos eine vorlagentreue Literaturverfilmung in einem traditionellen Sinne. Kubrick hält sich weitgehend an den Handlungsablauf von Schnitzlers Traumnovelle, lediglich in einzelnen Details passt er den Plot dezent den Umständen der Gegenwart an. Weder filmästhetisch noch dramaturgisch versucht der Regisseur dabei, den literarischen Text als zeitgenössische Pop-Erzählung zu präsentieren.(6) Wenn er in seinem Umgang mit Schnitzlers Novelle trotzdem eine breit angelegte Brücke zur Massenkultur schlägt - oder besser: produktive Verwirrung stiftet zwischen high and low -, so ergibt sich dieser Pop-Effekt namentlich auch aus der Besetzung der beiden Hauptrollen mit dem damaligen Schauspieler-Ehepaar Tom Cruise und Nicole Kidman (dazu weiter unten Couple Trouble).

Kubrick hat das Geschehen von Schnitzlers Traumnovelle aus dem Wien des frühen 20. Jahrhunderts in ein vage zeitgenössisches New York verlegt; gedreht allerdings hat er ausschliesslich in England, und das New York in Eyes Wide Shut, so schreibt Georg Seeßlen in einem der ersten deutschsprachigen Essays über den Film, ist denn auch "ebenso zeitlos und unwirklich", wie es schon das Wien der Traumnovelle war.(7) Der Film entführt das New Yorker Ehepaar Alice und Bill Harford, wie die Protagonisten bei Kubrick heissen, in eine ungewisse Zone zwischen Wachzustand und fantasmatischen Szenen des Begehrens. Nachdem die Treue der beiden bei einer Soirée in beiläufiger Weise ein erstes Mal auf die Probe gestellt wird, kommt es im Schlafzimmer zu einer von Marihuana beförderten intimen Unterredung. In deren Verlauf berichtet Alice Harford ihrem Mann von einer ausserehelichen sexuellen Fantasie. Dieses Bekenntnis seiner Frau zu einer eigenständigen unabhängigen Begehrenswelt bringt den Gatten sichtlich durcheinander, die scheinbar festgefügte Ordnung der bürgerlichen Ehe gerät aus den Fugen. In diesem Punkt greift Kubrick mit seiner vielleicht gewichtigsten Änderung gegenüber der Vorlage ein: Während der Ehemann bei Schnitzler auf Drängen seiner Frau nachzieht und sich seinerseits zu einer Fantasie von einem sexuellen Abenteuer bekennt, gibt es diesen Ausgleich zwischen den Geschlechtern bei Kubrick nicht: In Eyes Wide Shut bleibt der Mann stumm.

Als Harford gleich darauf zu einem Patienten abberufen wird, begibt er sich auf einen nächtlichen Streifzug durch die Stadt, der gesäumt ist von sexuell aufgeladenen Begegnungen. Sein Weg führt ihn zu einer Prostituierten und schliesslich auf ein grossbürgerliches Anwesen, wo sich eine maskierte Geheimgesellschaft zu anonymen sexuellen Ritualorgien trifft. Hier wird der seinerseits maskierte Harford bald als Eindringling ausgemacht und dazu gezwungen, vor der ganzen Gesellschaft seine Maske abzunehmen. Später liest er in der Zeitung vom Tod einer jungen Frau, die er auf dem Anwesen gesehen zu haben glaubt, und schliesst daraus, dass diese Frau möglicherweise von dem geheimen Orden geopfert wurde, weil sie ihn an jener erotischen Séance identifiziert hatte. Er stellt Nachforschungen auf dem Anwesen an und erhält sogleich Drohungen, diese zu unterlassen; in einer letzten Konfrontation gibt sich der Freund und Gastgeber der ersten Soirée als Mitglied dieser Geheimgesellschaft zu erkennen.

Am Ende mag Harfords traumartig verschlaufte Odyssee wie eine elaborierte Fluchtfantasie erscheinen, die vordergründig zwar als imaginäre Vergeltung für die fantasierte Untreue der Ehefrau verläuft, die ihn aber auch davor verschont, sich der realen Begehrenswelt seiner Ehefrau zu stellen. Denn "kein Traum", so der Protagonist am Ende in der Traumnovelle und auch bei Kubrick, "ist völlig Traum".(8)

 

Drinnen high und aussen low: Musik und Räume

Musik ist grundsätzlich, sofern sie instrumental ist, inhaltlich kaum dingfest zu machen. Umso interessanter wird es, wenn über sie, wie in Eyes Wide Shut, kulturtheoretische Deutungen vorgenommen werden. Bei Kubrick illustriert und verstärkt Musik nicht nur bestehende Gefühlslagen oder dramatische Momente, sondern sie erzeugt zusätzlich neue Bedeutungsräume, und gerade hierbei spielt die gezielt unterschiedliche Verwendung von U- und E-Musik eine zentrale Rolle.

In Eyes Wide Shut geht es geradezu exemplarisch darum, über die Musik Bedeutungsräume herzustellen, ein Vorgehen, das in dem Film teilweise sehr spielerisch gehandhabt wird. So erzeugt der Schostakowitsch-Walzer, der zu Beginn des Films erklingt, eine wundersame Filmatmosphäre, die jäh gebrochen wird, als Bill Harford die Musik einfach per Knopfdruck auf seinem Cassettendeck abstellt. Der damit vorgenommene Klangraumwechsel ist frappant: Zunächst scheinbar nur für den Zuschauer als Kommentar zum Film aus dem "off" hörbar, verwandelt sich die Musik mit dem Knopfdruck nachträglich plötzlich in eine Musik, die auch von den Figuren im Film gehört wird. Zuschauer und Kameraraum verschmelzen in gebrochener Art und Weise, das heisst: Der Gefühlsraum des Zuschauers wird in den Aussenraum des Protagonisten verwandelt. Bereits die Ouvertüre setzt die Musik also aufs Genaueste in Szene, sie führt die Wirkung und die Mittel von Filmmusik vor und reflektiert sie zugleich, und sie stellt die Frage nach dem Raum, in dem sich die Musik eigentlich abspielt.

Im weiteren Filmverlauf wird diese Frage weniger trickreich behandelt, stattdessen dient die Musik sehr deutlich einer Trennung zwischen "Aussen" und "Innen". Entweder ist sie dabei sowohl für den Zuschauer als auch für die Akteure zu hören, oder sie fungiert als Kommentar, der einen Innenraum bzw. genauer: einen Gefühlsraum zur Darstellung bringt. Solche Räumlichkeiten und Atmosphären werden durch die Musik präzise definiert: Als reine Unterhaltung fungiert Jazz auf einer Party und in einem Lokal; rituelle Musik prägt die Atmosphäre der Sexualorgie und definiert den Ausnahmecharakter der Situation (es handelt sich dabei um eine Musik, die eigens für den Film von Jocelyn Pook komponiert wurde). E-Musik in Gestalt reiner Klaviermusik von Ligeti und Liszt repräsentiert das menschliche Innen, also die Welt der Gefühle; zu hören ist sie in Situationen des Entsetzens (Ligeti) und bei Begegnungen mit dem Jenseitigen/Tod (Liszt), Situationen, die stets von der völligen Vereinsamung des Individuums künden. Das scheint zuerst recht konventionell, aber es ist es insofern nicht, als der Musik hier nämlich ein Eigenrecht zugesprochen wird, was Filmmusik in der Regel nicht vergönnt ist. Musik als Darstellung des Gefühls dient nicht der "action", sie ist vielmehr "tönendes Schweigen", um eine Wendung Richard Wagners zu gebrauchen.

Eyes Wide Shut wendet die herkömmliche Trennung von U- und E-Musik nun in solch scharfer Konsequenz an, dass die Musik gezielte räumliche Zuordnungen gewinnt: High wird zu inside, low zu outside. Einzig der Schostakowitsch-Walzer zu Beginn dient als räumliches Scharnier zwischen so verstandenem Aussen- und Innenraum. Nach dem trickreichen Auftakt ertönt der Walzer wiederum - diesmal eindeutig aus dem "off" - als Charakterisierung des Alltags, etwa wenn Bill Harford in der Praxis oder zu Hause ist, und schliesslich im Abspann, womit die Musik also sowohl in den virtuellen Raum des Films einführt (Ouvertüre) und auch wieder aus ihm hinausführt. Am Ende des Abspanns erklingt allerdings noch einmal Ligeti, was eine beunruhigende finale Wirkung hat. Dass Schostakowitsch als Schnittstelle zwischen Innen- und Aussenraum fungiert, zeugt von Kubricks Stilempfinden: Der Walzer für Jazzorchester ist ja, was also das Musikgenre und die Instrumentierung betrifft, gleichzeitig Ausdruck von high und low, was in Bezug auf Eyes Wide Shut heisst: er repräsentiert gleichzeitig das Innen und Aussen.

Wenn von der Semantisierung verschiedener Räume durch die Musik gesprochen wurde, so ist dies im Folgenden zu differenzieren und mit der Thematik des Films in Verbindung zu setzen. Im Zentrum des Films steht der Protagonist Dr. Bill Harford, der als Antiheld konzipiert ist, ohne dies aber explizit zu sein (er ist also nicht ein Aussenstehender wie etwa Camus Fremder); vielmehr wird gerade die Diskrepanz zwischen der bestens funktionierenden Fassade - Harford ist ein anerkannter Arzt, der eine wunderschöne Frau und eine reizende Tochter hat und in den höchsten New Yorker Kreisen verkehrt - und seinem unbekannten Innenleben inszeniert. Durch Eifersucht und verletzten Stolz übermannt, gerät Harford in eine Vielzahl unbekannter Räume, in denen sich jeweils weitere, von Begierde geprägte Zonen auftun, wie etwa in den Szenen bei dem Kostümverleiher, bei dem sich Harford eine Maske für den Besuch bei der Geheimgesellschaft besorgt und dabei konfrontiert wird mit der Tatsache, dass der Verleiher auch seine Tochter vermietet.

Ein wichtiges Merkmal für den Einsatz der Musik ist die Tatsache, dass sie, gerade in solchen Szenen, sparsam eingesetzt wird. Umso eindrücklicher und auch artifizieller wirkt die musikalische Inszenierung der E-Musik als Musik des "Innen". So ertönt beispielsweise die Musik Ligetis besonders eindrucksvoll bei einer Grossaufnahme von Harfords Gesicht, dessen Mimik völlig erstarrt ist. Noch stärker zum symbolischen Träger sich widersprechender Gefühle, zum Ausdruck einer Existenz zwischen Trieb und Tod wird die Musik von Liszt, und zwar in jener Szene, in der Harford im Leichenschauhaus die junge Frau besichtigt, die die Geheimgesellschaft seinetwegen hat umbringen lassen. "Klassische" Musik wird somit als ernsthafte Überschreitung des Visuellen, eigentlich aber auch des Auditiven inszeniert: Man hört eine Musik, die eigentlich gar nicht zu hören ist. Diese Feststellung scheint für Filmmusik geradezu banal. Dadurch aber, dass Kubrick die Musik sonst als räumliche Charakterisierung, als "ambient", verwendet, gewinnt hier der Einsatz von E-Musik einen ganz neuen Stellenwert, indem sie Ortlosigkeit repräsentiert.(9)

Neben der tönenden Innerlichkeit waren zwei Aussenräume erwähnt worden, die genauer zu unterscheiden sind: Der Partyraum mit leichter Swing-Musik und der Orgienraum mit ritueller Musik. Beide Male wird die Musik durch die Handlung mit einer Atmosphäre des Begehrens assoziiert, und beide Male handelt es sich um "festliche" Anlässe. Im Partyraum begleitet die Musik den Tanz, der zugleich als Vorbote und Zügelung der Triebe erscheint. Im Orgienraum hingegen besitzt sie eine initiatorische Bedeutung. Ihre rituelle Atmosphäre lässt eher kirchliche und damit auch asketische Assoziationen entstehen. Mit diesem musikalischen Hintergrund gewinnt die sexuelle Entladung die rituelle Weihe, eine Weihe, in der durch den semantischen Kontrast das skandalöse Geschehen noch krasser hervortritt. Das asketische und initiatorische Moment der rituellen Musik wird übrigens noch durch einen weiteren Faktor bestätigt und als Skandalon zugespitzt, nämlich durch das Passwort "Fidelio", mit dem man ins Gebäude eingelassen wird (bei Schnitzler heisst es "Dänemark"). Die Musik selbst, die gleichnamige Oper Beethovens, bleibt unhörbar und besteht als solche nur noch in der Geste, im blossen Titel, der durch ein Passwort symbolisch eingeschleust wird.

Eine weitere Differenzierung von Raum und Begehren leistet das einzige Popstück im Film. Es kennzeichnet einen Moment, der für die Handlung des Films und seine Problematik Schlüsselfunktion besitzt. Chris Isaacs Baby did a bad bad thing beschreibt den privaten, aber gesellschaftlich legitimierten Sexraum, das eheliche Schlafzimmer. Das Begehren des Ehepaars wird einerseits durch die Musik stimuliert, deren klangliche Oberfläche "sexy" ist, und andrerseits durch den Spiegel, das narzisstische Selbstbild. Unklar bleibt, wo diese Musik tatsächlich gehört wird: Erklingt der Song unmittelbar im Schlafzimmer der Harfords (worauf die tänzelnde Bewegung von Alice vor dem Spiegel hindeutet), oder ist der Song ein von aussen eingespielter Kommentar für die Gefühlswelt dessen, was war und was sein wird? Kubrick lässt die räumliche Zuweisung der Musik an dieser Stelle offen, und so fungiert der Song sowohl als musikalische Inszenierung gesellschaftlich integrer Erotik als auch, in Form des musikalischen Kommentars, als unaufgelöster Knotenpunkt der Gefühlswelt. Die viel beschworene Hybridität der Popmusik wird damit exemplarisch inszeniert als Ereignis im virtuellen Raum, der das Begehren permanent verschiebt, als ein nie eingelöstes Versprechen, das das Scheitern einer bürgerlichen Bilderbuch-Existenz sichtbar macht.

Mit solch deutlicher (oder explizit undeutlicher) Zuordnung von bestimmten Musiken und Räumlichkeiten gelingt Kubrick ein Kunstgriff, der auf den ersten Blick überhaupt nicht auffällt und aber gerade dadurch als sehr gelungen erscheint. Er verknüpft Musiken der unterschiedlichsten Herkunft, die durch ihre Kontraste Bezüge zueinander herstellen (vor allem die beiden Aussenräume), deren stilistische "Höhenunterschiede" aber vollkommen gedeckt sind aufgrund ihrer räumlichen Zuweisung. Die Dichotomie high and low wird somit zu räumlichen Bedeutungen des Aussen und Innen, des (gesellschaftlich ver- und betretbaren) Offenen und des (verbotenen) Privaten sowie schliesslich auch des Verborgenen transformiert und stellt auf diese Weise einen semantisch und emotional differenziert gestaffelten virtuellen Raum her. Dem Film gelingt damit die Einlösung einer paradoxen Struktur im Hinblick auf high and low: Mit der strengen Grenzziehung zwischen musikalischen Stilen und ihnen jeweils zugewiesenen semantischen Räumen können diese nebeneinander existieren: ohne sich zu versöhnen, aber auch, ohne sich zu behindern.

 

Bildzitat: Das Schlingern der Bilder zwischen high and low

Bilder zitieren Bilder - dies wird gleich zu Beginn von Eyes Wide Shut klargemacht. Die Filmzuschauer blicken zuallererst auf eine nackte, von zwei dorischen Säulen gerahmte weibliche Figur in Rückenansicht. Wie eine antike Venusstatue. Säulen dienen, wenn immer sie einen menschlichen Körper umgeben, dazu, diesen zu nobilitieren, in Malerei und Skulptur sind sie ein Mittel zur Auszeichnung und Erhöhung des Dargestellten, umso mehr, wenn sie wie in diesem Falle der ältesten und ehrwürdigsten Säulenordnung zuzurechnen sind. Wo eine Venusfigur ins Bild tritt, da kann auch der Spiegel nicht weit sein. Er befindet sich linkerhand der Figur in Rückenansicht, allerdings in solch einem Winkel zum Betrachter, dass sich die Frau zwar selber im Spiegel beobachten kann, ihr Spiegelbild jedoch bleibt für die Kamera unsichtbar, weil sie selbst es verdeckt. Das Begehren nach der Vorderansicht bleibt also uneingelöst, womit der Regisseur mit Bildmustern aus der Geschichte der Malerei bricht, in denen die verschiedensten Venusfiguren von Spiegeln umgeben sind. Von Tizian bis Manet dient der Spiegel im Bild dazu, eine weitere zusätzliche Ansicht auf das begehrte Objekt, den weiblichen Körper, zu gewinnen, eine Ansicht, die den Betrachtern perspektivisch nicht zugänglich ist und die aber über die Spiegelung in die Bildfläche eingebracht werden kann. Kubrick seinerseits enthüllt hier die Figur mit der Kamera, und er verhüllt sie mit dem Spiegel. Dadurch unterläuft er Seherwartungen, die über Jahrhunderte hinweg von der Malerei bedient wurden, er unterminiert die Standards der Darstellung des männlichen Begehrens mit dem Versuch, der weiblichen Akteurin eine eigene Sicht zurückzugeben. Mit diesem Versuch erscheinen traditionelle Bildmuster und Stereotype zugleich als pervers und banal.

Die "Venusfigur" entpuppt sich dementsprechend beim zweiten Blick als Hausfrau, die sich nicht entscheiden kann, welches Kleid sie als Abendgarderobe anziehen soll. Kann man sich einen grösseren Absturz aus göttlicher Sphäre vorstellen als den in eine Umkleidekabine? Diese förmliche Enthüllung eines high als low, das visuelle Vorführen des Übergangs von high zu low hat in Kubricks Film System.

Das Konzept, Bilder und Bildräume zu zitieren, wird in Eyes Wide Shut ergänzt durch die Strategie, ebendiese Bilder und Bildräume ständig umzudeuten. Je nach Figur geschieht dies fliessend oder abrupt. Solches "Schlingern der Bilder" durchzieht - neben dem Schlingern der Werte von high and low - den ganzen Film. Auch diese Strategie präsentiert bereits die Eingangsszene, denn nach der "Venusszene" sehen wir denselben Wohnungsausschnitt noch einmal, aber diesmal steht hier der männliche, bereits bekleidete Protagonist. Einige Gegenstände sind anders angeordnet, so dass klar ist, dass diese Szene der "Venusszene" nachfolgt. Durch die Wiederholung, Verschiebung und erzählerische Ausdeutung im Bild via Kameratravellings wird auch die Eingangsszene neu deutbar: beide Figuren sind ein Paar. Was anfangs völlig offen schien, sich antiker Bildmotive bediente und gerade in dieser Unklarheit hochgradig bedeutsam war, das wird nun zum banalen Doppelportrait eines Ehepaares. Das Interieur der Wohnung - hybride Jahrhundertwende-Architektur, Stilmöbel und Malerei aus dem 19. Jahrhundert, gleichsam also ein Schnitzlersches Ambiente - weist Herr und Frau Harford als Angehörige der bürgerlichen Oberschicht aus. So kann der Anfang des Films schliesslich als Pendant eines klassischen Ehepaarbildnisses gelesen werden, und zwar inklusive der den Protagonisten zugeordneten Farben: Rot für die Frau - der Mann in Blau. Zusätzlich führt Kubrick über die männliche Hauptfigur das Motiv des Bildes als "Fenster zur Welt" ein, ein blau schimmerndes Fenster, das dem Voyeur Einblicke erlaubt in die Phantasien und unterdrückten Sehnsüchte des Protagonisten, denn blaues Licht weist den Weg zu dessen heimlichen Wünschen. Es findet sich in den blau getönten Bildfolgen, welche Alice Harford zusammen mit einem anderen Mann zeigen, Bildfolgen, die sich aber als Phantasien ihres Mannes outen, der sich so wiederum ihre Phantasien vorstellt.

Ein weiteres Bildzitat bietet die Boudoir-Szene. Während sich unten im Haus seine Gäste beim Weihnachtsball vergnügen, frönt der Gastgeber anderen Lastern. Von Künstlern wie Degas als Bildort der Moderne eingeführt, benutzt Kubrick das Boudoir, um den Privaträumen des Gastgebers eine triviale Gestimmtheit zu verleihen. Direkt über einer kollabierenden Prostituierten ist an der Wand ein Modigliani ähnliches Aktgemälde angebracht. Die Prostituierte zitiert in Körperhaltung und Ausdruck exakt die Frauenfigur im Gemälde, doch plötzlich geht es in der realen Pornografie-Szene im Bad dramatisch zu und her, plötzlich geht es, im Kontext von Sex und Drogen, um Leben und Tod. Das im Bild ästhetisch Überhöhte, das eingefrorene Aktbild wird also gleichsam ins Leben geholt und weitergeführt, der Katastrophe entgegen. Der ganze Ballanlass mutiert zum Privatbordell, Bildersehen wird obszön. Als wolle Kubrick Laura Mulveys Kritik am Hollywoodkino bekräftigen, laut der ein weiblicher Körper im Bild nur als Fetisch-Objekt visueller Seh-Vergnügen herhalten muss.(10)

Höhepunkt der Bildzitate in Eyes Wide Shut ist die Orgienszene. Hier schwankt die Filmkulisse zwischen venezianischem Carneval, Opernbühne und arabisch-ornamentaler Kirche für eine schwarze Messe. Was bei Ingres die europäischen Sklavinnen im türkischen Harem sind, das sind für Kubrick die Maskenwesen, die auf highheels herumstaksen, und was bei Ingres der orientalische Serail ist, das stellt bei Kubrick der Geheimbund zur anonymen Befriedigung unterdrückter Sehgelüste dar. Die Orgienszene ist damit auch als visueller Selbstkommentar des Films zu lesen, denn in ihr spiegelt sich das Sehvergnügen des Kinogängers, es spiegelt sich das Kino als sexuell-visuelle Wunschphantasie schlechthin.

 

Couple Trouble: Cruise - Kidman

Besonders erhellend für die high and low-Frage in Eyes Wide Shut ist schliesslich auch die schauspielerische Besetzung des Ehepaares Harford. Kubrick nämlich hat die Rollen an das damalige Schauspieler-Ehepaar Tom Cruise und Nicole Kidman vergeben, seinerzeit das prominenteste power couple in Hollywood. Damit eröffnete der Regisseur einen medienwirksamen Echoraum in seinem Film, der die Spekulationen über die Grenze zwischen gespieltem und wirklichem Eheleben der beiden Schaupieler geradezu provozierte: Inwiefern, so traute sich auch die seriöse Filmkritik zu fragen, werden in diesem Szenario von verdrängtem Begehren nicht nur Abgründe zwischen den fiktionalen Eheleuten des Films offenbar, sondern auch reale Reste aus dem ehelichen Alltag der Stars Cruise und Kidman?

Eyes Wide Shut war somit von Anfang an darauf angelegt, dass Schnitzlers literarische Textvorlage in der Verfilmung von einem Narrativ aus der Boulevard-Presse durchkreuzt würde. Das war zwar sicherlich zu einem guten Teil als publicity stunt beabsichtigt, aber es bedeutet mehr als das. Denn gerade in dem, was wir zuvor als Pop-Effekt in Eyes Wide Shut bezeichnet haben, verrät der Film zugleich Kubricks entschieden hochkulturelles Kunstverständnis. Die Tatsache nämlich, dass der Regisseur den erwähnten Echoraum öffnet und die Psychologie der fiktionalen Ehe mit dem Wissen von der realen Ehe zwischen Cruise und Kidman verspiegelt, steuert massgeblich die Rezeption des Films und seiner Doppelbödigkeit. Diese Vorwegnahme möglicher Lesarten von Eyes Wide Shut erfolgt als auktorialer, das heisst auch: als autoritärer Akt. Spannend sind also weniger die Spekulationen, wie weit der Film als Schlüsselerzählung oder (Zerr-)Spiegel funktioniert, in dem sich vielleicht eine tiefere Wahrheit über diese Star-Ehe abzeichnet, als in den massenmedialen Kontexten der Klatschpresse sichtbar wurde.(11) Entscheidend ist vielmehr die Beobachtung, wie Kubrick durch ebendiesen vordergründigen Pop-Effekt seinen Status als mächtiger Autor in einem hochkulturellen Sinne bekräftigt - nämlich als Herr der Diskurse, die in seinem Namen erfolgen.

Im Übrigen hat sich die intertextuelle Kreuzung dieses Boulevard-Narrativs mit der Schnitzler-Inszenierung seitens Kubricks auch auf die kulturelle Codierung von Nicole Kidman ausgewirkt, die überhaupt erst seit Eyes Wide Shut als Schauspielerin wirklich ernst genommen wird.(12) Als Kidman vier Jahre später die Hauptrolle in Lars von Triers kontroversem Film Dogville (2003) übernimmt, signalisiert das in der öffentlichen Wahrnehmung nicht nur ihre künstlerische Emanzipation von ihrem Ex-Mann Cruise, sondern vor allem auch einen erfolgreichen symbolischen Brückenschlag zwischen (europäischer) Film-Kunst und Kidmans persönlichem Status als Hollywood-Popstar.(13)

Natürlich wäre es verfehlt, daraus den Schluss zu ziehen, dass sich die kulturelle Valorisierung einer Nicole Kidman auf die auktoriale Verantwortung von Regisseur Kubrick zurückführen lies­se. Eyes Wide Shut zeigt jedoch auf, wie die Signifikanten high und low als arbiträre Eckdaten kultureller Werthierarchien funktionieren. Kubricks Film, so schreibt Seeßlen, erzähle vom "Scheitern des psychologischen Realismus".(14) So gesehen liefert diese Schnitzler-Verfilmung einen pointierten Kommentar zum vorherrschenden Modus des Erzählens im Hollywood-Kino. Allerdings lässt sich der künstlerische Anspruch dieses Scheiterns des psychologischen Realismus nur durch einen Überschuss an realer Trivialpsychologie realisieren, der zwangsläufig ins Spiel kommt, wenn zwei verheiratete Superstars in der Öffentlichkeit des Kinos vermeintlich ihre Ehe aufarbeiten. Denkt man sich Kubricks Film ohne den doppelten Boden einer realen Ehe wie jener zwischen Cruise und Kidman, dafür mit ausgewiesenen Charakterdarstellern ohne jegliche Verbreitung in der Klatschpresse, so bliebe Eyes Wide Shut genau jenem psychologischen Realismus der bürgerlichen Ästhetik verhaftet, den Schnitzler in der Traumnovelle an seine Grenzen und darüber hinaus geführt hat.

© Corina Caduff, Sabine Gebhardt Fink, Florian Keller, Steffen Schmidt (Zürich)


ANMERKUNGEN

(1) In den letzten Jahren freilich hat diese traditionelle Form der Kino-Rezeption gegenüber dem privaten Heimkino einiges an Gewicht eingebüsst. Was das für das Verhältnis von high und low bedeuten könnte, umreisst der Filmkritiker Bert Rebhandl in einer kleinen Zukunftsvision wie folgt: "Eines Tages wird eine kulturelle Elite, die sich den aktuellen Blockbuster nicht aus dem Netz lädt, vielleicht mit demselben Gefühl ins Kino gehen, mit dem Bürger heute in die Oper gehen." ("Das Kino bleibt ein besonderer Ort, aber ihm fehlen die Inhalte." In: Tages-Anzeiger, 23.11.2005, S. 53.)

(2) Gilles Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2. Frankfurt a.M. 1999, S. 107. Wie weit sich diese These auch für das Verhältnis des digitalen Kinos zum Geld aufrecht erhalten lässt, wird sich erst noch zeigen müssen.

(3) Auch für den semantischen Rahmen des Begriffs B-Movie macht sich im US-Kino seit längerer Zeit eine Verschiebung bemerkbar: Neuerdings ist vermehrt von Filmen die Rede, die hinsichtlich ihrer Themenwahl, ihrer Schauspieler und ihrer dramaturgischen Formelhaftigkeit den B-Movies zugerechnet werden müssten, deren Produktionskosten sich aber in ähnlichen Dimensionen bewegen wie die Budgets gängiger A-Movies.

(4) Die politique des auteurs, wie sie einst von den Cahiers du Cinéma propagiert wurde, ist vor diesem Hintergrund als Gegenmodell zu verstehen.

(5) Leslie A. Fiedler: Cross the Border - Close the Gap. In: A New Fiedler Reader. New York 1999. S. 270-294.

(6) Als Gegenbeispiel siehe Baz Luhrmanns Shakespeare-Verfilmung Romeo + Juliet (1997), die auf eine Diskrepanz zwischen texttreuer Figurenrede und clipartiger Pop-Ästhetik angelegt ist.

(7) Georg Seeßlen: Hinter den Spiegeln: Eyes Wide Shut - Stanley Kubricks Lektüre der "Traumnovelle". In: Filmbulletin 223 (August 1999), S. 7.

(8) Arthur Schnitzler: Traumnovelle. Frankfurt a.M. 1999, S. 88.

(9) Das eigentlich Unhörbare wird durch die Auswahl der Musik noch unterstützt: Ligetis frühe Klavierstücke, die Musica Ricercata, sind Experimente, die ausschliesslich in der Werkstatt des Komponisten erklingen, sie sind keine Konzertmusik, sie repräsentieren nichts Öffentliches.

(10) Laura Mulvey: Visual Pleasure and Narrative Cinema. Reprint in: Visual and other Pleasures. Bloomington Indiana 1989, S. 14-27.

(11) Am Ende von Eyes Wide Shut kaufen die Harfords ihre Geschenke für Weihnachten; anderthalb Jahre nach der Premiere des Films erklärten Tom Cruise und Nicole Kidman offiziell ihre Trennung.

(12) Bis vor ihrem Auftritt in Eyes Wide Shut war das öffentliche Bild von Nicole Kidman das einer mässig begabten, ehrgeizigen Schauspielerin, ihre Ehe mit dem mächtigen Superstar Tom Cruise im Jahr 1990 wurde ihr immer auch als geschickter Schachzug in ihrer Karriereplanung ausgelegt.

(13) Was Tom Cruise betrifft, so hat er sein beschränktes Renommee als ‚Charakterdarsteller’ durch seine Arbeit mit Kubrick nicht massgeblich zu steigern vermocht; als Schauspieler repräsentiert Cruise nach wie vor den Superstar der Hollywood-Kulturindustrie.

(14) Seeßlen (Anm. 7), S. 10.


9.1. Erneuerung der literarischen Tradition durch neue Medien

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For quotation purposes:
Corina Caduff, Sabine Gebhardt Fink, Florian Keller, Steffen Schmidt (Zürich): High Art, Low Culture: Stanley Kubricks Eyes Wide Shut (1999) als Grenzphänomen zwischen Hoch- und Alltagskultur. In: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften. No. 16/2005. WWW: http://www.inst.at/trans/16Nr/09_1/caduff_fink_keller_schmidt16.htm

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