Seit der Renaissance und dem Humanismus haben “Künstler“
oft eine Sonderstellung in der europäischen Gesellschaft. Das Bild
vom „Staatskünstler“, das der Baseler Historiker Jacob
Burckhardt in seiner Kultur der Renaissance in Italien (1860)
entwirft, richtet sich in erster Linie auf Florenz und auf Machiavelli.
Die Künstler dieser Zeit werden zum Bestandteil des Staates als
„Kunstwerk“ gemacht. Berühmte Dichter bzw. Maler konnten
sich durch ihre besondere Leistung künstlerisch als Individuum
behaupten. So wird Dante noch von Napoleon als das erste Genie der neueren
Zeiten gerühmt. Von ihren höfischen Auftraggebern und schon
von ihren Zeitgenossen wurden sie eben aus diesem Grund als „Künstler“
geachtet. Als die europäischen Künstler bzw. Schriftsteller
in der Mitte des 18. Jahrhunderts die bis dahin unerhörte Möglichkeit
wahrnahmen, nicht mehr nur die Muse, sondern auch
sich selbst anzurufen, war das ein historischer Augenblick.(1)
Die Sonderstellung des Künstlers ist seit der Genie-Periode im
18. Jahrhundert in Deutschland zu einem besonders häufig in der
Literatur behandelten Thema geworden. Seit Klopstock seinen Messias
mit dem Aufruf an die eigene Seele begann, häufen sich die Berufungen
auf die Autonomie der künstlerischen Einbildungskraft. Rousseau
war der erste, der den „Künstler“ zum Gegenstand im
Roman machte. Bei den englischen Romanciers lässt sich die Wendung
vom abenteuerlich handelnden Tom Jones zum selbst reflektierenden
Helden Tristram Shandy besonders deutlich ablesen. In Deutschland
wurden zunächst der junge Goethe selbst und später sein Werther
und sein Wilhelm Meister zum Prototyp dieser Selbstbespiegelung
des Künstlers. Damit setzt Goethe Neuerungen, die Wieland in seinem
Agathon eingeführt hatte, mit seinem Bildungs-, Erziehungs-
und Entwicklungsroman fort, den Thomas Mann später als eine
„geistige und durch und durch menschliche Kunstgattung“
kennzeichnet, und der zugleich immer auch als „Autobiographie
und Selbstbekenntnis“(2) gilt.
Jedoch haben sich die Akzente des Künstlerbilds bzw. des Künstlerproblems
in der europäischen Literatur durch die abrupten wirtschaftlichen
und sozial-politischen Änderungen in der zweiten Hälfte des
19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts erneut verschoben. Das Künstlerbild
und seine Problematik werden mehr und mehr im Konflikt mit der Gesellschaft
zum Thema gemacht und häufig mit politisch orientierter Gesellschaftskritik
verbunden - so bei E.T.A. Hoffmann, Stendhal, Balzac, Flaubert, Dostojewski,
Fontane, Zola, Thomas Mann, Joyce, und später Böll und Grass.
So lässt sich eine zeitlang in der westlichen Literatur die Abtrennung
der privaten Lebensgeschichte der Künstler von der Öffentlichkeit
ihrer Zeit beobachten. Das Künstlerthema konzentriert sich hauptsächlich
auf die Selbstbespiegelung als Künstlerproblem, wobei die Stellung
des Künstlers in der jeweiligen Gesellschaft auf unterschiedlichen
Erfahrungen beruht. Gleichzeitig nimmt der Ehrgeiz der Künstler
zu, zum Sprecher vieler Menschen, insbesondere der Verfolgten und Benachteiligten
zu werden. Dabei kommt es unter Umständen zu einer förmlichen
Identifikation des Autors mit dem Künstler.
In der Literatur außerhalb Europas – darunter
in asiatischen Ländern - spielen offensichtlich
noch andere Faktoren bei der Bewertung des Künstlers eine entscheidende
Rolle: Religion (z.B. Buddhismus, Islamismus), die literarische Tradition
im jeweiligen Kulturraum und auch der Gegensatz von Schriftkultur
versus mündlicher Kultur. Nicht zuletzt gibt das Verhältnis
zwischen Hof und Volk bzw. zwischen Staat und Volk der Hof (Staats)-
und der Volkskultur je ein besonderes Gepräge.
Für die Sektion sind Beiträge (sowohl auf Deutsch
als auch auf Englisch) erwünscht, die sich mit dem Künstlerbild
bzw. mit der Künstlerproblematik im westlichen und östlichen
Kulturraum befassen. Eine vergleichende und kontrastive Analyse der
Künstlerproblematik soll neue Ergebnisse sowie neue Ansätze
des Forschungsspektrums aufzeigen.
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Since the Renaissance and the era of Humanism, “artists”
have often occupied a special position in European society. The idea
of the “Staatskünstler“, illustrated by Swiss historian
Jakob Burkhardt in his Kultur der Renaissance in Italien (1860),
concentrates primarily on Florence and Machiavelli. The artists of that
time are turned into a constituent part of the state as a “work
of art”. Through their outstanding achievements, famous poets
or painters could ensure their artistic individuality. So Dante is praised
by Napoleon as the first Genius of the modern time. Their aristocratic
patrons (and also their compatriots) considered them artists for precisely
this reason. When, in mid-18th century, European artists and writers
took the opportunity - unheard of until then - to call not only
upon the muse, but also on themselves, this was a truly
historic moment. (1) The special position
of the artist became an especially popular literary topic, beginning
with the period of the “genius” (Genie-Periode) in 18th-century
Germany. Since Klopstock’s Messias with his calling on
his own soul, artist’s appeal to lie upon the autonomy of their
own artistic imagination increased tremendously. Rousseau was the first
to turn the artist into the subject of a novel. The English novelists
took a certain turn from the adventurous hero, Tom Jones, to
the self-conscious hero, Tristram Shandy. In Germany, first
young Goethe himself, then Werther and Wilhelm Meister
became the proto-type of this self-reflection of the artist. Goethe
continues the innovations in Wieland’s Agathon through
his Bildungsroman, Erziehungsroman, and Entwicklungsroman,
which Thomas Mann later characterizes as the “genre of intellectual
and the genre of humanistic art”, but also seen as “autobiography
and confession.”(2) However,
as far as the idea and the problem of the artist in European Literature
are concerned, another shift of emphasis was caused by the sudden economic
and socio-political changes during the second half of the 19th and the
first part of the 20th century. The idea of the artist and the related
issues were more and more brought up into conflict within the framework
of social questions, often in connection with politically motivated
social criticism: E.T.A. Hoffmann, Stendhal, Balzac, Flaubert, Dostoevsky,
Fontane, Zola, Thomas Mann, Joyce, and later Böll und Grass.
Thus, for a certain time one can observe in Western Literature the
separation of the private life of the artist from the contemporary public
sphere. The subject of the artist focuses mainly on the narcissistic
self-illumination as the problem of the artist, with the position of
the artist in his or her respective society being based on different
experiences. At the same time, the ambition of the artist increased
and can be recognized as spokesperson of curtain groups of people, especially
of victims of persecution and disadvantage. As a result, an increasing
identification of the author with the artist can possibly be recognized.
In literature from outside Europe, from Asian
countries, other factors apparently play a crucial role as
well: Religion (e.g., Buddhism, Islamism), the literary traditions in
the respective cultures and also the contrast of the written culture
versus oral culture. Last but not least, the relation between
court/crown and subjects, or between the state and the people, gives
the states and the people’s culture its unique character.
For this section, we are looking for contributions (both in English
and German) which deal with the idea of the artist and/or with
the problem of the artist as expressed in Western or Eastern culture(s).
A comparative and contrastive analysis of the issue of the artist is
intended to provide new insights and results as well as new research
approaches.
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Anmerkungen:
1 Siehe: Eberhard Lämmert:
„Der Autor und sein Held im Roman des 19. und 20. Jahrhunderts“.
In: The German Quarterly, Fall 1993, p. 415.
2 Zitiert nach Thomas Mann in seinem Artikel „Der
Entwicklungsroman” in der Vossischen Zeitung vom 4. November 1916,
auch in seinem Vortrag „Über die Kunst des Romans“,
in: Eberhard Lämmert, (Anm. 1), S. 415 bis 416.
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Notes:
1 See: Eberhard Lämmert,
“Der Autor und sein Held im Roman des 19. und 20. Jahrhunderts.“
In: The German Quartely, Fall 1993, p. 415.
2 Quoted from Thomas Mann in his article “Der
Entwicklungsroman” in the Vossische Zeitung from Nov. 4, 1916,
also in his speech „Über die Kunst des Romans,“ in:
Eberhard Lämmert (note 1), p. 415-416.
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